0897 - Monster-Maar
schmerzhaft gegen ein Tischbein. Für einen Moment wurde alles schwarz.
Stille folgte; eine unheimliche, völlig leere Stille. Astrid rappelte sich mühsam auf und kniete sich hin. Sie schüttelte benommen den Kopf. Hatten ihre Trommelfelle Schaden genommen, oder war es wirklich so ruhig? Erstaunlich, wie laut doch eine Stille sein konnte…
Etwas Warmes lief ihre Wange hinunter. Sie musste aufstehen, musste nach den anderen sehen. Nur wo war oben? Keuchend stützte sie sich, noch immer kniend, mit den Händen auf den Bodendielen ab und rammte sich eine Glasscherbe in den Ballen. Sie spürte es kaum, ignorierte den Schmerz. Einer mehr. Irgendwo vor ihr waren weiße Hosenbeine. Sie kamen näher, und mit ihnen ein Grollen und Murmeln, als spräche jemand in weiter Ferne durch ein dickes Handtuch. Kurz vor ihren Augen hielten die Beine an, dann spürte sie starke Hände, die unter ihre Achseln griffen und sie hochzogen.
Zamorra.
Der französische Professor - wie ein Professor sieht der gar nicht aus, dachte sie verwundert - stand vor ihr, mit zerzausten Haaren und zerknitterter Kleidung, unverletzt. Er sprach zu ihr, sagten Astrids Augen. Und nach und nach verstand sie seine Worte, lernte instinktiv, aus wahllos erscheinenden Lauten wieder Zusammenhänge zu bilden. Der Schleier, der ihre Ohren bedeckt gehalten hatte, hob sich allmählich. Irgendwo draußen heulte die Alarmanlage eines Autos. Klagend. Ängstlich.
»… on Orgung?«, wisperte Zamorra, und Astrid sah ihn fragend an. »Sind Sie in Ordnung?«, wiederholte er ein klein wenig lauter, und diesmal verstand sie. Ohne darüber nachzudenken, nickte sie. »Gut«, flüsterte er - warum in Gottes Namen flüstert der die ganze Zeit? -, »wir müssen raus und nachsehen, was geschehen ist. Kommen Sie.«
Astrid wollte ihn ausschimpfen, weil er so leise sprach, fand aber nicht die richtigen Worte. Sie fand überhaupt keine. Willenlos folgte sie dem Franzosen, der ihre Hand ergriffen hatte und sie sanft mit sich zog, auf die Tür des Lokals zu. Als sie näher kam, erkannte Astrid, dass schon Menschen in der Tür standen. Sie sah ihren Vater, der Franz stützte. Sah diese Frau, wie hieß sie noch, Duval? Und sie sah…
Für einen Moment stand die Welt still.
Nichts drehte sich mehr, nichts bewegte sich. Der Klang, der eben noch da gewesen war, verschwand genauso wieder, wie die Kraft in Astrids Beinen. Wie die Kontrolle über ihren Körper. Sie sackte zusammen, fiel auf die Knie. Ihr Mund stand offen. Fassungslos.
Die Straße war das reinste Kriegsgebiet. Überall lagen Metallteile herum, schwarz und rußgefärbt. Und dazwischen… nein!
Die Fensterfront der Geschäfte von gegenüber war vollständig zerstört. Astrid sah Menschen in den leeren Fensterrahmen stehen, blutend und verwirrt. Gökhan, der Dönermann, Jessi von der Herrenboutique. Und davor… nein!
Doch.
Sie konnte es nicht ignorieren; nicht das, nicht jetzt.
Dazwischen, davor… das war ihr Dienstwagen. Ohne Fenster, ohne Motorhaube. Ausgebrannt, und dennoch brennend. Auf dem Fahrersitz ein verkohlter Leichnam.
Und vor ihr, auf der untersten Stufe der kleinen Treppe, die zur Krone führte, lag eine Pfeife.
***
Sie hatten Glück gehabt. Die dicken Basaltsteine, aus denen so viele Häuser in dieser Region gemauert waren, hatten den Großteil der Explosionswucht abgefangen. Diese Gebäude hatten zwei Weltkriege überstanden, eine Autobombe mehr oder weniger machte da auch keinen Unterschied. Einzig die Fenster, Läden, Blumenkästen… eben alles, was sich außerhalb der Wände befunden hatte, war in Mitleidenschaft gezogen worden. Das meiste davon lag nun, in kleine, verbogene und verschmorte Einzelteile gesprengt, über die Straße verstreut.
Sanitäter und Polizisten bahnten sich ihren Weg durch die Trümmer. Rentner standen in einigen hundert Metern Entfernung und blickten mit großen Augen herüber, interessiert und dennoch vorsichtig. Erst der nächtliche Einbruch, und jetzt das! So viel Action an ein und demselben Tag hatte Mendig sicher seit Jahrzehnten nicht erlebt.
Zamorra, Nicole und die Lessbrücks waren bereits verarztet worden. Niemand von ihnen hatte sich nennenswerte Verletzungen zugezogen, zumindest nicht körperlich. Einzig Astrid hatte aus einer Platzwunde am Kopf geblutet und sich in die linke Hand geschnitten - ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes hatte sich ihrer angenommen. Jetzt standen sie und Zamorra einige Meter abseits des Geschehens und beobachteten das emsige Treiben der
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