0899 - Schwanengesang
den er gekommen war, wieder im Spaya.
***
Gegenwart
Die Leute von Laim verschwanden alle wieder in ihren Häusern und löschten das Licht. Innerhalb von ein paar Minuten legte sich gespenstische Stille über den kleinen Ort. Auch im »Whalefish Inn« brannte kein Licht mehr. Zamorra besaß allerdings einen Schlüssel für den Nebeneingang. Er betrat das Gasthaus - jedoch nicht in der Absicht, sich ein paar Stunden aufs Ohr zu legen, denn wenn es sein musste, kam er einige Tage ohne Schlaf aus. Vielmehr gedachte der Professor, Alice zu suchen und sie zu stellen. Wie Geery es in seinem Brief schon erwähnt hatte, schien sie bei diesen Ereignissen eine Schlüsselrolle einzunehmen. Und zwar eine, die ihm überhaupt nicht schmeckte. Denn Alice schien in der Lage zu sein, ihn nach Belieben manipulieren zu können! Er musste unbedingt herausfinden, warum das so war. Dass es ihn unglaublich ärgerte, war dann nochmals eine ganz andere Sache.
Zamorra schlich durch das nächtliche Haus. Die privaten Räume der O'Learys lagen im hinteren Teil des großen Gebäudes und waren von innen nur über den Gastraum begehbar. Nachdem Zamorra die Küche durchquert hatte, in der es nach ranzigem Fett stank und eine Treppe hochgestiegen war, stand er vor einer verschlossenen Tür aus Eichenholz. Mit einem einfachen Zauberspruch öffnete er das Schloss problemlos. Allerdings gab es ein knirschendes Geräusch, als der Sperrriegel wie von Geisterhand zurückfuhr.
Der Meister des Übersinnlichen hielt den Atem an. Nichts geschah. Er betrat das Wohnzimmer. Die Konturen der Möbel zeichneten sich deutlich im Mondlicht ab, das durch das große Fenster fiel. Durch eine weitere Tür kam er in einen finsteren Flur. Durch das Verschieben einer Hieroglyphe und einen intensiven Gedankenbefehl brachte er Merlins Stern dazu, schwach grünlich zu leuchten, so dass er genug sah. Warum ging das eine und das Andere nicht? Hatte er das Taran zu verdanken? Oder verdächtigte er hier den völlig Falschen? Konnte vielmehr Alice das bewirken?
Vom Flur gingen verschiedene Türen ab. Hinter einer schnarchte es so laut, dass die Geräusche bis auf den Flur zu hören waren. Zamorra öffnete vorsichtig die Tür und verzog das Gesicht. Das ist ja nicht zum Aushalten. Der sägt ja einen ganzen Wald ab…
Denn es war der dicke Wirt, der wie ein gestrandeter Wal auf dem Rücken lag und das komplette Bett füllte. Seine Frau war wahrscheinlich schon vor langer Zeit in ihr eigenes Schlafzimmer gezogen. Aus Angst, irgendwann erdrückt oder doch zumindest schlaflos zersägt zu werden. Tatsächlich fand Zanlorra sie zwei Zimmer weiter friedlich schlummernd vor. An der letzten Tür links hing ein kunstvoll verziertes handgemaltes Schild mit der Aufschrift »Das Reich von Alice«.
Mit Genitiv wär's richtiger gewesen, dachte Zamorra ein wenig boshaft. Das Ganze hat etwas Kindliches. Ist Alice in ihrem Innern vielleicht noch ein Kind, auch wenn sie bereits erwachsen aussieht? Spielt sie mit mir? Na warte…
Vorsichtig drückte Zamorra die Klinke nach unten und schob die Tür auf. Sie öffnete sich völlig geräuschlos. Das grüne Licht riss ein Zimmer aus der Finsternis, das tatsächlich das eines jungen Mädchens war. Die Wände waren mit Postern aktueller Popstars gepflastert, dazwischen hingen Fotos der schottischen Fußballnationalmannschaft und romantische Bilder. Eines zeigte eine nackte Einhornreiterin im silbernen Mondlicht vor einem schimmernden Wasserfall. Auf einer Kommode und drei Regalen stand allerlei Nippes herum. Modellpferde, Herzchen, Schminke. Die Decke im Bett bildete die Umrisse eines auf der Seite liegenden, schlafenden Menschen nach.
Der Meister des Übersinnlichen trat zwei Schritte näher. Irgendein Instinkt warnte ihn. Er fuhr herum. Mit den Fingerspitzen und den Fußsohlen hing Alice an der Decke. Direkt über der Tür. Wie Spiderman. Ihr Körper war durchgedrückt, der Kopf hing nach unten. Das lange rote Haar umfloss ihr Gesicht, auf das sich ein höhnisches Grinsen legte, statt nach unten zu hängen.
»Hallo Süßer«, sagte sie.
Zamorra wollte sich auf sie stürzen und sie von der Decke ziehen. Ein grellweißer Ball explodierte urplötzlich vor seinen Augen. Von diesem Moment an wusste der Meister des Übersinnlichen nichts mehr.
Als er wieder erwachte, lag er auf seinem Bett. Der Geschmack in seinem Mund war derart übel, dass er erstmal gründlich die Zähne putzte. Er fühlte sie wie gerädert, aber es ging ihm schnell wieder
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