09 - Befehl von oben
Unterlegenheit war nicht Tradition der russischen Armee, aber das könnte sich bald ändern.
Die Bedrohung seines Landes war China, und wenn die Schlacht je geschlagen würde, dann am falschen Ende einer langen Versorgungslinie gegen eine riesige Wehrpflichtigenarmee. Diese Bedrohung abwehren hieß das kopieren, was die Amerikaner gemacht hatten. Bondarenkos Aufgabe war, die gesamte Militärpolitik seines Landes zu ändern. Nun, dachte er, er war an den richtigen Ort gekommen, um das zu lernen.
Scheißlüge, dachte der Präsident hinter einem verständnisvollen Lächeln. Es fiel schwer, Indien zu mögen. Die bezeichneten sich als die größte Demokratie der Welt, doch das war nicht sonderlich wahr. Sie redeten von hehren Prinzipien, bedrohten aber, wenn es ihnen paßte, die Nachbarn, entwickelten Atomwaffen und, mit der Bitte an Amerika, sich aus dem Indischen Ozean zurückzuziehen - »Immerhin heißt er ja der Indische Ozean«, hatte ein ehemaliger Premierminister einem ehemaligen US-Botschafter gesagt -, beschlossen sie, die Doktrin von der Freiheit der Meere beliebig auszulegen. Und verdammt, sie hatten vorgehabt, Hand an Sri Lanka zu legen. Nur jetzt, da der Schritt vereitelt war, sagten sie, daß sie einen solchen Schritt nie vorgehabt hätten. Einem Regierungschef respektive einer Regierungschefin konnte man aber nicht lächelnd in die Augen schauen und sagen: »Scheißlüge.«
Das tat man einfach nicht.
Jack hörte geduldig zu und trank noch ein Glas Perrier, das ihm ein namenloser Diener gebracht hatte. Die Situation in Sri Lanka war kompliziert, konnte unglücklicherweise zu Mißverständnissen führen, und Indien bedauere das; sonst bestanden sicherlich keine Differenzen, da wäre es doch besser, beide Seiten zögen sich etwas zurück. Die indische Flotte lief wieder ihre Ausgangshäfen an, Manöver beendet, aber ein paar Schiffe beschädigt durch die amerikanische Demonstration, welche, wie die Premierministerin in anderen Worten durchblicken ließ, nicht gerade fair war. Solche Rabauken!
Und was hält Sri Lanka wohl von Ihnen ? hätte Ryan fragen können, tat es aber nicht.
»Wenn Sie und Botschafter Williams sich über diese Frage besser hätten verständigen können«, stellte Ryan betrübt fest.
»Solche Dinge passieren«, erwiderte die Premierministerin. »David - ehrlich gesagt, so nett dieser Mann auch ist, ich fürchte, das Klima ist zu heiß für einen seines Alters.« Deutlicher hätte sie Ryan nicht sagen dürfen, er solle den Mann entlassen. Botschafter Williams zur Persona non grata erklären wäre ein zu drastischer Schritt. Ryan gab sich alle Mühe, seinen Gesichtsausdruck zu beherrschen, versagte aber. Er brauchte Scott Adler hier, doch der Außenminister pro tempore war gerade woanders.
»Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, daß ich im Augenblick nicht in der Lage bin, ernsthafte Veränderungen im Regierungsapparat vorzunehmen.« Nur über Ihre Leiche!
»Bitte, das habe ich gar nicht gesagt. Ich verstehe voll und ganz Ihre Situation. Ich hoffte, ein vermeintliches Problem beizulegen, um Ihre Arbeit zu erleichtern.« Oder ich könnte sie schwerer machen.
»Haben Sie vielen Dank, Frau Premierministerin. Vielleicht könnte das Ihr hiesiger Botschafter mit Scott besprechen?«
»Ich werde diesbezüglich gewiß mit ihm reden.« Sie schüttelte Ryan noch einmal die Hand und entfernte sich. Jack zählte mehrere Sekunden und schaute dann den Prinzen an.
»Eure Hoheit, wie nennen Sie es, wenn Ihnen eine hochgestellte Persönlichkeit direkt ins Gesicht lügt?« fragte der Präsident mit einem bitteren Lächeln.
»Diplomatie.«
9 / Fernes Heulen
Golowko überflog Botschafter Lermonsows Bericht ohne Mitgefühl für den Betroffenen. Ryan wirke >gequält und verlegen<, >ein wenig überfordert< und >physisch erschöpft<. Nun, das war zu erwarten. Die Rede anläßlich der Trauerfeier für Präsident Durling war, darin stimmte das ganze diplomatische Corps überein - mitsamt den amerikanischen Medien, die damit ihr Höflichkeitsspektrum stark strapazierten -, nicht die eines Präsidenten gewesen. Nun, jeder, der Ryan kannte, wußte, daß er sentimental war, besonders wenn es um das Wohlergehen von Kindern ging. Das konnte ihm Golowko leicht nachsehen. Russen waren ebenso veranlagt. Doch er hätte besser die offiziell vorbereitete Ansprache halten sollen. Golowko hatte sie gelesen. Sie war gut, voller Zusicherungen für alle Zuhörer - doch Ryan war schon immer gewesen, was die Amerikaner einen
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