09 - Denn sie betrügt man nicht
mit Leichtigkeit beantworten können. Es hieß, daß man die Hand ausstreckte und in ihr das Herz der Freundin hielt, die Geheimnisse ihrer Seele und ihrer liebsten Träume. Es hieß, daß man Geborgenheit bot, einen geschützten Raum, wo alles möglich war, wo sich zwischen zwei verwandten Seelen alles von selbst verstand. Es hieß, wir sind einander ebenbürtig und was auch geschieht, wir werden es gemeinsam durchstehen. So hatte sie es einmal gesehen. Wie naiv ihr Versprechen unverbrüchlicher Treue doch gewesen war!
Aber anfangs waren sie einander ja auch ebenbürtig gewesen, sie und Sahlah, zwei Schulmädchen, die immer als letzte ins Team gewählt wurden, die nicht zu den Festen ihrer Schulkameraden gehen durften oder eingeladen wurden - oder sich auch einfach nicht zu kommen getrauten -, deren neckisch verzierte Schuhkartons, die man am Valentinstag hinten im Klassenzimmer der Grundschule aufzustellen pflegte, leer geblieben wären, hätte nicht eine an die andere gedacht und hätten sie nicht beide gewußt, wie es war, im Regen stehengelassen zu werden. Ja, zu Beginn waren Sahlah und sie einander ebenbürtig gewesen. Doch jetzt am Ende stimmte die Balance nicht mehr.
Rachel schluckte, um ihre trockene Kehle zu befeuchten. Sie hatte niemandem weh tun wollen. Sie hatte nur gewollt, daß die Wahrheit ans Licht kam. Die Wahrheit war immer das Beste. War es nicht besser, mit der Wahrheit zu leben als mit einer Lüge?
Doch Rachel wußte, daß jetzt sie diejenige war, die log.
Und der Beweis dafür befand sich direkt hinter ihr, Backsteinmauern, Fenster mit gerüschten Vorhängen und eine Tür mit einem roten Aufkleber, auf dem Zu verkaufen stand.
Sie wollte nicht an die Wohnung denken. »Unsere allerletzte«, hatte der Makler gesagt und dazu vielsagend gezwinkert, während er sich nach Kräften bemüht hatte, ihr entstelltes Gesicht zu ignorieren. »Genau das richtige für den Anfang. So was suchen Sie doch, stimmt's? Wer ist denn der Glückliche?«
Aber Rachel hatte nicht an Heirat und Kinder gedacht, als sie durch die Wohnung gegangen war, die Schränke inspiziert, die Aussicht bewundert, die Fenster geöffnet hatte. Sie hatte an Sahlah gedacht. Sie hatte sich und Sahlah gesehen, wie sie gemeinsam kochten, vor dem offenen Kamin mit dem hoffnungslos künstlich glühenden Feuer saßen, im Frühjahr auf der winzigen Terrasse ihren Tee tranken, sie hatte daran gedacht, wie sie miteinander schwatzen und träumen und einander das sein würden, was sie nun schon seit einem Jahrzehnt waren: beste Freundinnen.
Sie war nicht auf Wohnungssuche gewesen, als sie zufällig auf die letzte Wohnung der Clifftop Snuggeries gestoßen war. Sie war auf der Heimfahrt von einem Besuch bei Sahlah gewesen, einem Besuch wie unzählige andere mit Gesprächen, Gelächter, Musik und Tee. Diesmal jedoch wurde er von Yumn gestört, die mit einem ihrer herrischen Befehle ins Zimmer geplatzt war. Sahlah solle ihr eine Pediküre machen. Sofort. Jetzt. Die Tatsache, daß Sahlah gerade Besuch hatte, spielte überhaupt keine Rolle. Yumn hatte einen Befehl gegeben und erwartete seine unverzügliche Ausführung. Rachel hatte bemerkt, wie Sahlah sich in Yumns Anwesenheit verändert hatte. Aus dem lebensfrohen Mädchen war eine unterwürfige Dienerin geworden: gehorsam, fügsam, wieder das verängstigte Kind aus der Grundschule, das alle gehänselt hatten.
Darum war Rachel, als sie auf der Heimfahrt das große rote Plakat mit der Ankündigung »Nur noch wenige Wohnungen! Modernster Komfort!« gesehen hatte, von Westberry Way abgebogen und zu den Wohnungen hinaufgeradelt. Sie sah den Makler nicht als das, was er war, einen übergewichtigen und übereifrigen Versager mit einem Fleck auf der Krawatte, sie sah in ihm den Mann, der ihre Träume erfüllen konnte.
Aber Träume, das hatte sie inzwischen gelernt, gingen leicht in die Brüche und brachten einem nichts als Enttäuschung. Vielleicht war es daher besser, überhaupt nicht erst zu träumen. Denn wenn man sich Hoffnungen machte, dann - »Rachel!«
Rachel fuhr in die Höhe. Mit einer hastigen Bewegung kehrte sie der Aussicht auf die endlose glatte Oberfläche der Nordsee den Rücken. Sahlah stand vor ihr. Ihr dupatta war ihr vom Kopf geglitten und lag lose um ihre Schultern. Ihr Gesicht war ernst. Das erdbeerfarbene Muttermal auf ihrer Wange war tiefrot, ein sicheres Zeichen für inneren Aufruhr.
»Sahlah! Wie hast du ...? Was tust du ...?« Rachel wußte nicht, wie sie das Gespräch, das sie
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