09 - Denn sie betrügt man nicht
so dringend gesucht hatte, beginnen sollte.
»Ich war zuerst im Laden. Deine Mutter hat mir gesagt, daß du weggefahren bist, nachdem die Frau von Scotland Yard da war. Ich dachte mir schon, daß du hierher gekommen bist.«
»Weil du mich kennst«, sagte Rachel unglücklich. Sie zupfte an einem goldenen Faden in ihrem Rock. Er zog sich glitzernd durch das rot-blaue Arabeskenmuster des Stoffes. »Du kennst mich besser als jeder andere, Sahlah. Und ich kenne dich.«
»Ich dachte immer, wir würden einander kennen«, erwiderte Sahlah. »Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich bin nicht einmal sicher, ob wir noch Freundinnen sind.«
Rachel wußte nicht, was ärger weh tat, das Wissen, daß sie Sahlah einen schrecklichen Schlag versetzt hatte, oder der Schlag, den Sahlah jetzt ihr versetzte. Sie konnte sie nicht ansehen, weil sie das Gefühl hatte, wenn sie die Freundin jetzt ansähe, würde sie sich ärgeren Verletzungen aussetzen, als sie ertragen konnte.
»Warum hast du Haytham die Quittung gegeben? Ich weiß, daß er sie nur von dir bekommen haben kann, Rachel. Deine Mutter hätte sie bestimmt nicht hergegeben. Aber ich verstehe nicht, warum du sie ihm gegeben hast.«
»Du hast zu mir gesagt, daß du Theo liebst.« Rachel hatte Mühe zu sprechen, ihre Zunge fühlte sich an wie dick geschwollen. Sie suchte verzweifelt nach einer Antwort, die hätte erklären können, was ihr selbst unerklärlich war. »Du hast gesagt, daß du ihn liebst.«
»Ich kann nicht mit Theo zusammen sein. Das hab' ich dir auch gesagt. Ich hab' dir gesagt, daß meine Familie es niemals erlauben würde.«
»Und es hat dir das Herz gebrochen. Das hast du selbst gesagt, Sahlah. Du hast gesagt: ›Ich liebe ihn. Er ist wie meine andere Hälfte.‹ Genau das hast du gesagt.«
»Aber ich habe auch gesagt, daß wir nicht heiraten können, auch wenn ich es mir noch so sehr wünsche, trotz allem, was wir gemeinsam haben, trotz all unserer Hoffnungen und ...« Sahlah verstummte. Rachel sah auf. Ihre Freundin hatte Tränen in den Augen und wandte sich rasch ab, nach Norden, zum Pier, wo Theo Shaw war.
Nach einer kleinen Pause sprach sie weiter. »Ich hab' dir gesagt, daß ich früher oder später den Mann würde heiraten müssen, den meine Eltern mir aussuchen würden. Wir haben darüber gesprochen, du und ich, das kannst du nicht abstreiten. Ich hab' gesagt: ›Meine Liebe zu Theo ist aussichtslos, Rachel.‹ Daran mußt du dich doch erinnern. Du hast immer gewußt, daß ich niemals mit ihm zusammenleben kann. Was hast du dir also davon versprochen, als du Haytham die Quittung gegeben hast?«
»Du hast Haytham nicht geliebt.«
»Ja, das stimmt. Ich habe Haytham nicht geliebt. Und er hat mich nicht geliebt.«
»Ohne Liebe kann man doch nicht heiraten. Man kann nicht glücklich sein, wenn man sich nicht gegenseitig liebt. Dann fängt man sein Leben doch mit einer Lüge an.«
Sahlah trat zur Bank und setzte sich. Rachel senkte den Kopf. Sie konnte den Saum von Sahlahs Leinenhose sehen, ihren schlanken Fuß und den Riemen ihrer Sandale. Eine tiefe Traurigkeit überfiel sie. Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr so allein gefühlt.
»Du hast gewußt, daß meine Eltern eine Heirat mit Theo niemals erlauben würden. Sie hätten mich aus der Familie ausgestoßen. Aber du hast Haytham trotzdem von Theo erzählt -«
Rachel hob ruckartig den Kopf. »Ich hab' seinen Namen nicht gesagt. Ich schwör's dir. Ich habe Haytham seinen Namen nicht gesagt.«
»Weil«, fuhr Sahlah fort, mehr zu sich selbst als zu Rachel, als versuchte sie, Rachels Motiven beim Reden auf den Grund zu kommen, »du gehofft hast, Haytham würde seine Verlobung mit mir lösen. Und dann?« Sahlah wies auf die Wohnanlage, und zum ersten Mal sah Rachel sie so, wie Sahlah sie zweifellos sah: billig gebaut, ohne Stil oder Charakter. »Dann hätte ich hier mit dir zusammenleben können, meinst du? Hast du im Ernst geglaubt, daß mein Vater das erlauben würde?«
»Du liebst Theo«, sagte Rachel schwach. »Das hast du selbst gesagt.«
»Willst du etwa behaupten, du hättest in meinem Interesse gehandelt?« fragte Sahlah. »Willst du behaupten, daß es dich gefreut hätte, wenn Theo und ich geheiratet hätten? Das glaube ich dir nicht. Die Wahrheit sieht anders aus, aber das willst du nicht zugeben: Hätte ich versucht, Theo zu heiraten - was mir natürlich nicht eingefallen wäre -, aber hätte ich es versucht, hättest du alles getan, um auch das zu verhindern.«
»Das ist
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