09 - Denn sie betrügt man nicht
mitzunehmen. Aber sie hatte an gar nichts gedacht außer an die dringende Notwendigkeit, so schnell wie möglich mit Sahlah zu sprechen.
Draußen am Kai jedoch war Rachel klargeworden, daß sie der Polizei nicht zuvorkommen konnte. Und wenn die Beamtin zuerst zu Sahlah nach Hause fuhr, konnte sich die ganze Situation noch verschlimmern. Sahlahs Mutter oder diese schleimige Yumn würden ihr die Wahrheit sagen - daß Sahlah mit ihrem Vater zur Arbeit gefahren war (trotz des plötzlichen Todes ihres Zukünftigen, wie Yumn zweifellos hinzufügen würde) -, und da würde die Beamtin natürlich sofort zur Senffabrik fahren. Wenn sie dort ankam, während Rachel dort war, um Sahlah davon zu überzeugen, daß das, was diese zweifellos für einen unverzeihlichen Verrat hielt, nicht so gemeint gewesen war, und um sie vor dem unmittelbar bevorstehenden Besuch der Polizeibeamtin zu warnen, die versuchen würde, sie mit überraschenden Fragen aus der Fassung zu bringen ... Wie würde das aussehen? Es würde ganz so aussehen, als wäre da jemand verdammt schuldig. Und wenn es auch zutraf, daß Rachel schuldig war, so war sie doch nicht des Schlimmsten schuldig. Sie hatte Haytham Querashi nichts getan. Nur ... Na ja, ganz stimmte das vielleicht nicht, wenn man es sich recht überlegte.
Sie hatte ihr Fahrrad auf den Bürgersteig gehoben und zur Kaimauer geschoben. Sie hatte es an den Stein gelehnt und eine gute Viertelstunde dort gesessen, während die Hitze, die aus dem Beton aufstieg, ihr fast das Gesäß verbrannt hatte. Sie konnte jetzt nicht in den Laden zurück und sich den scharfen Fragen ihrer Mutter stellen. Sie konnte Sahlah nicht vor der Polizei erreichen. Sie mußte einen Platz finden, wo sie verschnaufen konnte, bis die Luft rein war und sie zur Senffabrik fahren und mit der Freundin sprechen konnte.
So war sie schließlich da gelandet, wo sie jetzt war: oben bei den Clifftop Snuggeries. Es war der einzige Zufluchtsort gewesen, der ihr eingefallen war.
Sie hatte einen Umweg fahren müssen, um hierherzukommen und war statt durch die High Street, wo sie am Laden vorbeigekommen wäre, die Marine Parade hinaufgeradelt. Das war weit mühevoller gewesen, weil sie sich den steilen Anstieg zur Upper Parade hatte hinaufquälen müssen, die reine Folter bei dieser Hitze, aber sie hatte keine Wahl gehabt. Hätte sie versucht, über die Church Road, die längst nicht so steil war, zu den Snuggeries zu gelangen, so hätte sie durch die High Street fahren müssen, direkt am Schmuckgeschäft vorbei. Ein Blick auf Rachel, die da auf ihrem Fahrrad vorbeisauste, und Connie wäre wie eine Furie aus dem Laden geschossen.
Daher war Rachel schließlich völlig ausgepumpt bei der Wohnanlage angekommen. Sie hatte ihr Fahrrad neben einem staubigen Begonienbeet fallen lassen und war um die Häuser herum nach hinten getrottet. Dort war ein Garten mit einer kleinen verdorrten Rasenfläche, drei schmalen Blumenbeeten, in denen Kornblumen, Tagetes und Tausendschön vor sich hin welkten, zwei steinernen Vogelbädern und einer Holzbank, auf der Rachel sich niedersetzte. Von hier aus blickte sie nicht aufs Meer hinaus, sondern direkt auf die Wohnanlage, die sie mit stummem Vorwurf anzusehen schien. Es war kaum zu ertragen. Vor sich hatte sie das, was ihr an den Wohnungen am besten gefiel: oben die Balkone und unten die Terrassen mit Blick nicht nur auf den Garten, sondern auf die Southcliff Promenade, die sich in Windungen über dem Meer dahinzog.
Wir sind für dich verloren, auf immer verloren, schienen die Clifftop Snuggeries zu sagen. All deine schönen Pläne sind gescheitert, Rachel Winfield, und wie stehst du jetzt da?
Rachel wandte sich ab. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie rieb sich mit dem Unterarm die Stirn und stellte sich vor, wie köstlich es jetzt wäre, ein Zitroneneis zu schlecken. Sie drehte sich auf der Bank und sah aufs Meer hinaus. Die Sonne brannte gnadenlos herab, während weit draußen am Horizont, wie schon seit Tagen, eine schmale Nebelbank lag.
Rachel legte ihre Faust auf die Rückenlehne der Bank und ihr Kinn auf ihre Faust. Ihre Augen brannten wie von einem starken salzigen Wind gereizt, und sie zwinkerte mehrmals schnell hintereinander, um die Tränen zu vertreiben. Sie wünschte sich fort von hier, von diesem Ort der Einsamkeit, an den Zorn, Groll und Eifersucht sie geführt hatten.
Was hieß es eigentlich, sich einem anderen Menschen zu verschreiben? Es war noch gar nicht so lange her, da hätte sie die Frage
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