09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)
dick und feucht waren wie die Lippen einer Frau.
Die Besatzung wird mich nicht erkennen. Manche mochten sich an den Jungen erinnern, der er gewesen war, ehe er seinen Namen gelernt hatte, doch Stinker würde für sie ein Fremder sein. Er hatte schon lange nicht mehr in einen Spiegel geschaut, doch er wusste, wie alt er erscheinen musste. Sein Haar war weiß geworden, wo es nicht ausgefallen war, und das Verbliebene fühlte sich steif und trocken wie Stroh an. Im Kerker war er schwach wie ein altes Weib geworden und so dünn, dass ihn eine kräftige Windböe umwerfen konnte.
Und seine Hände … Ramsay hatte ihm Handschuhe gegeben, feine Handschuhe aus schwarzem Leder, weich und geschmeidig und mit Wolle ausgestopft, um das Fehlen seiner Finger zu verbergen, aber wenn jemand genauer hinsah, würde ihm auffallen, dass sich drei seiner Finger nicht bewegten.
» Nicht näher!«, rief jemand. »Was wollt Ihr?«
»Reden.« Er ließ den Gaul weitergehen und winkte mit dem Friedensbanner, damit sie es nicht übersehen konnten. »Ich bin unbewaffnet.«
Er erhielt keine Antwort. Innerhalb der Mauern, so wusste er, besprachen die Eisenmänner, ob sie ihm Zutritt gewähren oder seine Brust mit Pfeilen spicken sollten. Das wäre auch nicht schlimm. Ein rascher Tod hier und jetzt wäre immer noch hundertmal besser, als gescheitert zu Lord Ramsay zurückzukehren.
Dann öffneten sich die Flügeltüren am Torhaus. » Schnell!« Stinker wandte sich gerade zu dem Sprecher um, als der Pfeil einschlug. Er kam irgendwo von rechts, wo zerfallene Teile der Mauer halb im Sumpf versunken waren. Der Pfeil durchbohrte die Falten seines Banners und blieb im Stoff hängen, keinen halben Meter von seinem Gesicht entfernt. Er erschrak so heftig, dass er das Friedensbanner fallen ließ und aus dem Sattel fiel.
»Los, rein«, rief die Stimme. »Schnell, du Narr, schnell !«
Stinker krabbelte die Stufen auf Händen und Knien hinauf, während ein zweiter Pfeil über seinen Kopf hinwegflog. Jemand packte ihn und zerrte ihn ins Innere, und er hörte, wie die Tür hinter ihm zukrachte. Er wurde auf die Beine gezogen und an die Wand gedrückt. Dann setzte man ihm ein Messer an die Kehle, und ein bärtiges Gesicht schob sich so nah vor seines, dass er die Nasenhaare des Mannes zählen konnte. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier? Raus damit, oder ich mache das Gleiche mit Euch wie mit ihm.« Die Wache deutete mit dem Kopf auf eine Leiche, die neben der Tür auf dem Boden verfaulte. Auf dem grünen Fleisch krabbelten Maden herum.
»Ich bin ein Eisenmann«, antwortete Stinker und log. Der Junge, der er einmal gewesen war, war als Eisenmann geboren worden, doch Stinker war im Kerker von Dreadfort zur Welt gekommen. »Sieh mich an. Ich bin der Sohn von Lord Balon. Dein Prinz.« Er hätte den Namen sagen können, doch irgendwie blieben ihm die Worte im Hals stecken. Stinker kommt von stinken, und das reimt sich auf linken. Allerdings musste er das jetzt für eine Weile vergessen, denn niemand würde sich einem Geschöpf wie Stinker ergeben, gleichgültig, wie verzweifelt die Lage war. Er musste so tun, als wäre er wieder ein Prinz.
Der Mann, der ihn gefangen genommen hatte, starrte sein Gesicht an, blinzelte und verzog misstrauisch den Mund. Der Mann hatte braune Zähne und sein Atem roch nach Bier und Zwiebeln. »Lord Balons Söhne wurden getötet.«
»Meine Brüder. Ich nicht. Lord Ramsay hat mich nach Winterfell gefangen genommen. Er hat mich hierhergeschickt, um mit euch zu verhandeln. Hast du den Befehl hier?«
»Ich?« Der Mann nahm das Messer herunter und trat einen Schritt zurück, wobei er beinahe über die Leiche gestolpert wäre. »Nein, ich nicht, M’lord.« Sein Kettenhemd war verrostet, das Leder löste sich auf. Auf dem Handrücken weinte eine offene Wunde Blut. »Ralf Kenning hat den Befehl. Der Kapitän hat es gesagt. Ich stehe nur an der Tür, mehr nicht.«
»Und wer ist das?« Stinker stieß die Leiche mit dem Fuß an.
Die Wache starrte den Toten an, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. »Der … der hat das Wasser getrunken. Ich musste ihm die Kehle durchschneiden, damit er aufhört zu schreien. Bauchschmerzen. Man kann das Wasser nicht trinken. Stattdessen haben wir Bier.« Die Wache rieb sich das Gesicht, die Augen waren gerötet und entzündet. »Zuerst haben wir die Toten in die Keller geschleppt. Die Gewölbe da unten sind überflutet. Niemand macht sich jetzt noch die Arbeit, also lassen wir sie liegen, wo sie
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