09 - Geheimagent Lennet und der verräterische Lippenstift
Fenster noch erleuchtet waren.
Der Eingang hatte einen kleinen turmförmigen Vorbau. Die Stufen waren von einer dünnen Eisschicht überzogen, und die Tänzerin wäre gestürzt, hätte Lennet sie nicht im letzten Moment aufgefangen. Lennet drückte auf die Klingel. In der Ferne war wieder das schnell lauter werdende Brummen des Chevrolet zu hören.
Im Inneren hörte man ein hübsches Glockenspiel. Das Dröhnen des Chevrolet wurde lauter.
Die Holztür war zum Teil verglast und mit schmiedeeisernem Gitter versehen, und Lennet glaubte hinter dem Mattglas undeutlich Bewegungen zu erkennen.
Er läutete nochmals.
Diesmal hörte er Schritte. Aber er sah auch an einer Mauer bereits den Widerschein der Scheinwerfer des Verfolgerautos.
»Wer ist da?« fragte eine Männerstimme.
Lennet wollte antworten, aber die Tänzerin kam ihm zuvor.
»Öffnen Sie schnell", hauchte sie. »Wir sind in Lebensgefahr.«
Lennet fühlte Zorn in sich hochsteigen. Die Tänzerin hatte alles verdorben. Lebensgefahr! Das war dumm! Jetzt konnte man stundenlang verhandeln, ehe die Tür aufgemacht wurde.
Aber er hatte sich getäuscht. Schon war der Chevrolet in die Straße eingebogen. Schon sah Lennet nicht mehr nur den Widerschein, sondern die Scheinwerfer selbst. Schon glaubte er auch den Umriß des Wagens erkennen zu können. Da wurde der Riegel zurückgeschoben, der Schlüssel gedreht, die Kette ausgehängt und die schwere Tür schwang nach innen auf.
Lennet schob Nadja hinein, trat ebenfalls ein und schloß rasch die Tür.
Mit rasender Geschwindigkeit schoß der Chevrolet draußen vorbei. Er hielt nicht bei dem Mustang. Das Geräusch des starken Motors verlief sich in der Ferne.
Lennet und die Tänzerin standen in einer großen Eingangshalle mit dunkel getäfelten Wänden, mit Marmorkonsolen, mit Spiegeln in kostbaren Rahmen. Eine Treppe mit geschnitztem Geländer führte nach oben. Es war fast übertrieben warm. Aus zahlreichen Lampen über den Konsolen kam ein sanftes Licht. Der Hausherr selbst paßte hervorragend in diese angenehme Umgebung. Es war ein vornehmer, kleiner beleibter Herr in einer bequemen weinroten Hausjacke mit schwarzen Samtaufschlägen. Während er seine Gäste musterte, drückten seine runden Wangen, sein Dreifachkinn und sein runder Bauch nichts als Wohlwollen aus.
»Lebensgefahr", sagte er französisch mit englischem Akzent, den er auch gar nicht zu verbergen versuchte. »Hast du gehört, Bonnie? Lebensgefahr! Was ich immer sage: Was es nicht alles gibt auf der Welt!«
Im Türrahmen rechts erschien zuerst eine etwas bejahrte Dame, rundlich, rosig, über das ganze Gesicht lächelnd. Dann ein Bursche von vielleicht sechzehn Jahren, blond, schmal und blaß mit leidendem Gesicht. Die Dame trug ein langes schwarzes mit silbernen Pailletten besetztes Kleid und der schwächliche Junge einen Smoking, der ganz offensichtlich von einem erstklassigen Schneider gemacht war.
»Seien Sie uns willkommen", sagte der Herr des Hauses, indem er sich an die Flüchtlinge wandte. »Ich heiße Albert Goodfellow. Das ist meine Frau, Mrs. Goodfellow, und das hier ist mein Sohn, Claudius Goodfellow. Dürfen wir Sie noch zu einem kleinen nächtlichen Imbiß einladen?« Er wies mit der Hand auf einen reichgedeckten Tisch im Speisezimmer. »Ich glaube, es ist noch etwas Kaviar da. Nicht wahr, Bonnie? Und Claudius wird uns die Freude machen, noch eine Flasche Champagner heraufzuholen.«
Diese ebenso großzügige wie unvorhergesehene Gastfreundschaff schien Nadja überhaupt nicht zu bemerken.
Sie stand regungslos da. Aber Lennet war gerührt. So etwas hatte er noch nie erlebt. Wie war es möglich, daß Menschen, denen es in ihrem Leben offensichtlich noch nie an etwas gefehlt hatte, mit solchem Vertrauen ein fremdes Paar aufnahmen, das behauptete, in Lebensgefahr zu sein?
»Monsieur", sagte Lennet, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle. Ich bin...«
Er zögerte. Es kam ihm unangemessen vor, diese reizenden Leute anzulügen. Aber solange er im Dienst war, zählte sein wahrer Name nichts.
»Ich bin Marie-Joseph Lafleur, und ich bin Journalist. Die Dame ist der Star der Balletttruppe Stella: Nadja Ratan, und wir...«
Mrs. Goodfellow unterbrach ihn, indem sie heftig zu klatschen begann. Claudius schloß sich ihr an, begnügte sich allerdings damit, sanft seine Hände aneinander zu reiben. Herr Goodfellow strahlte so, daß sein Gesicht in tausend kleine Fältchen zerfiel.
»Deshalb", sagte er,
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