09 - Old Surehand III
fertigte Winnetou aus einem weichen Blatt einen passenden Pfropf, den er mit dem beizenden Saft des Dentschu-tatah tränkte. Diese Pflanze gehört wie unser Chelidonium in die Familie der Papaverazeen, unterscheidet sich aber von diesem dadurch, daß sie keinen rotgelben Milch-, sondern einen weißen, dünnflüssigeren Saft hat. Als mir der Pfropfen in die Wunde gedreht wurde, war es, als ob ich ein glühendes Eisen hineinbekäme. Ich bin gewohnt, Schmerzen zu verbeißen, mußte mich jetzt aber doch zusammennehmen, um ein unverändertes, ja lächelndes Gesicht zu zeigen. Winnetou sah mich an und sagte, mit dem Kopf nickend:
„Ich weiß, daß Old Shatterhand jetzt am Marterpfahl hängt; da er diesen Schmerz mit Lächeln übersteht, würde er auch an einem wirklichen Pfahl lachen. Howgh!“
Die höchst schmerzhafte Prozedur wurde noch zweimal wiederholt, wobei jedesmal die Empfindung weniger peinigend war. Dann träufelte mir der Apache den wasserhellen Saft der Tschitutlischi ein, legte das Kraut auf die Wunde und verband sie fest. Dieses Kraut gehört in die Familie der Plantagineen, ist aber keineswegs unser Wegebreit. Ich habe beide Pflanzen, welche wahrhaft Wunder wirken, nicht in Deutschland, auch nicht im Osten der Vereinigten Staaten gefunden. Die Apachen nennen, außer den zwei schon angeführten Namen, das eine wie das andere Kraut Schis-inteh-tsi, zu deutsch ‚Indianerpflanze‘, und behaupten, daß es ein Geschenk des großen Geistes für seine roten Söhne sei, nur da wachse, wo sie wohnen, sich mit ihnen aus dem Osten nach dem fernen Westen zurückgezogen habe und mit ihnen einst aussterben werde. Selbst Winnetou, der stets so vorurteilslose, behauptete einst in vollstem Ernst zu mir:
„Wenn der letzte Indianer stirbt, wird auch das letzte Blatt Schi-inteh-tsi verwelken und nie wieder grünen. Es blüht mit der roten Nation in jenem Leben wieder auf!“
Es war doch möglich, daß die sechs Weißen, welche Winnetou gesehen hatte, wieder zurückgekehrt waren und uns beobachtet hatten. Wir trafen die gebotenen Vorsichtsmaßregeln und losten die Wachen aus, wovon indessen ich als Verwundeter entbunden wurde. Ich schlief trotz der Verletzung bis zum frühen Morgen fest, wo ich aber von einem Gefühl des Zerrens und der Trockenheit aufgeweckt wurde. Winnetou lag seinen chirurgischen Pflichten wieder ob, wobei heut nur der zweite Saft in Anwendung kam; dann aßen wir und brachen nachher auf.
Es galt natürlich zunächst, zu erfahren, wer die sechs Weißen gewesen waren. Wir setzten über den Creek und ritten, um mich zu schonen, langsam weiter, während der Apache fortgaloppierte, um die gesuchte Fährte zu entdecken. Es dauerte gar nicht lange, bis er kam und uns zu ihr führte. Sie lief in unsere Richtung über die Prärie, was wir uns gleich gedacht hatten. Wir wußten ja, daß Toby Spencer auch hinauf nach dem Park von San Louis wollte. Natürlich folgten wir ihr.
Diese Prärie war nicht groß; es hörten jetzt überhaupt die Ebenen auf, die oft so langweilig sind und doch den erhabenen Eindruck des Ozeans machen. Wir kamen, um mich so auszudrücken, an die Vorhöhen der Vorberge und mußten von jetzt an auf einen geradlinigen Ritt verzichten. Gut war es, daß wir die Wege und Pässe, welche wir aufzusuchen hatten, kannten. Zunächst galt es, den alten, sogenannten Kontinentalpfad zu erreichen, einen früher vielbelebten Westmannsweg, welcher in unzähligen Windungen über die Mountains führt, zur jetzigen Zeit aber vergessen worden zu sein scheint.
Da wir den grasigen Boden verlassen hatten, war die Fährte, welcher wir folgten, nicht leicht zu lesen. Oft verschwand sie für längere Zeit ganz; wir trafen aber immer wieder auf sie, ohne uns große Mühe gegeben zu haben sie zu finden, und so nahmen wir an, daß die uns Vorausreitenden auch nach dem Kontinentalpfad wollten.
Erwähnen muß ich, daß ich bei jedem Wasser, an welches wir kamen, abstieg, um meine Wunde zu kühlen, was so, wie ich es machte, freilich nicht viel Zeit in Anspruch nahm. Ich hatte mir nämlich über dem Knie einen Riemen so fest um den hohen Stiefel gebunden, daß das untere Bein luftdicht abgeschlossen war; dann schöpfte ich mir den oberen Teil des Schaftes mit den Händen voll Wasser, und dieses reichte fast stets so weit, bis es wieder frisches gab. Zuweilen stieg ich gar nicht ab und ließ mir von einem der Gefährten ‚den Stiefel füllen‘.
Man glaubt nicht, welchen Eindruck die Rocky Mountains machen, wenn man
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