09 - Vor dem Tod sind alle gleich
wenn du einer von ihnen bist«, erwiderte das erste Mädchen trotzig.
Eadulf blieb geduldig. »Ich bin hier fremd. Ich weiß weder, wer ihr seid, noch, wer ›sie‹ sind.«
»Aber du wußtest doch so viel, daß du die Höhle und uns darin gefunden hast«, widersprach ihm das zweite Mädchen, das anscheinend schneller denken konnte als seine Gefährtin. »Niemand hätte die Höhle nur zufällig entdeckt. Du mußt doch einer von ihnen sein.«
»Sollte ich jemand sein, der euch etwas tun will, dann habt ihr nichts zu verlieren, wenn ihr meine Fragen beantwortet«, erklärte ihnen Eadulf. Das jüngere Mädchen begann zu schluchzen. »Sollte ich aber«, setzte er schärfer hinzu, »einfach ein Fremder sein, der zufällig vorbeikam, dann könnte ich euch vielleicht aus eurer Not helfen, wenn ihr mir sagt, weshalb man euch an Händen und Füßen gebunden und in dieser Höhle zurückgelassen hat.«
Es dauerte noch etwas, bis die ältere der beiden zu einem Entschluß kam.
»Das wissen wir nicht«, meinte sie nach einigem Nachdenken.
Eadulf zog ungläubig die Brauen hoch.
»Es ist die Wahrheit, was ich dir sage«, beharrte das Mädchen. »Gestern holte uns ein Mann aus unseren Häusern ab. Er brachte uns hierher, fesselte uns und ging weg. Er sagte, es würde jemand kommen und uns auf eine lange Reise mitnehmen, und wir würden unsere Heimat nie wiedersehen.«
Eadulf sah die Kleine scharf an und versuchte zu ergründen, ob sie wirklich die Wahrheit sagte. Ihre Stimme war leise und tonlos.
»Wer war dieser Mann?« forschte er.
»Ein Fremder wie du.«
»Aber kein Ausländer«, fügte das zweite Mädchen hinzu.
»Ich glaube, das müßt ihr mir genauer erklären. Wer seid ihr, und woher stammt ihr?«
Die Mädchen schienen jetzt weniger furchtsam, nachdem er ihnen die erste Angst vor Mißhandlung genommen hatte.
»Ich heiße Muirecht«, sagte die ältere. »Ich stamme aus den Bergen im Norden von hier, mehr als einen Tagesritt weit.«
Eadulf wandte sich an die jüngere. »Und wie heißt du?«
»Mein Name ist Conna.«
»Stammst du aus demselben Ort wie Muirecht?« Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Nein«, schaltete sich Muirecht ein und nahm ihr die Antwort ab. »Ich hab sie nie gesehen, bis wir als Gefangene zusammenkamen. Unsere Namen haben wir uns erst jetzt genannt.«
»Wie geschah das? Warum wurdet ihr gefangen?« Die Mädchen wechselten wieder Blicke und schienen sich wortlos zu einigen, daß Muirecht für beide sprechen sollte.
»Gestern früh, lange vor dem Morgengrauen, hat mich mein Vater geweckt…«
»Und wer ist dein Vater?« fragte Eadulf dazwischen.
»Ein armer Mann. Er ist ein fudir, aber ein saerfudir « , setzte sie rasch und stolz hinzu.
Eadulf wußte, daß die fudir die unterste Klasse der irischen Gesellschaft bildeten, nur wenig höherstehend als die Sklaven der angelsächsischen Gesellschaft. Sie setzten sich nicht aus Angehörigen der Clans zusammen, sondern waren gewöhnlich Flüchtlinge, Kriegsgefangene, Geiseln oder Verbrecher, denen die bürgerlichen Rechte zur Strafe aberkannt worden waren. Die fudirs teilten sich in zwei Unterklassen, die daer-fudir oder Unfreien und die saerfudir, die zwar auch nicht ganz frei waren, aber nicht in der Leibeigenschaft standen wie die untere Schicht. Die saer-fudir waren gemeinhin keine Verbrecher und konnten deshalb bestimmte Rechte in der Gesellschaft zurückerlangen. Sie konnten Land bebauen, das ihnen von ihrem Lord oder König zugeteilt wurde, und in seltenen Fällen konnten sie aus der »unfreien« Klasse in die der céile aufsteigen, der freien Clan-Mitglieder, und sogar den Rang eines bó-aire erlangen, eines landlosen Fürsten und Friedensrichters.
Eadulf gab den Mädchen zu verstehen, daß er sich in diesen Sachen auskannte.
»Mein Vater hat nur wenig Land«, fuhr Muirecht fort, »aber trotzdem verlangt der Gebietsherr das biatad, die Naturalabgabe. Zweimal im Jahr muß mein Vater seine Anleihe aus dem Gemeindevorrat zurückzahlen.«
Eadulf kannte diesen Brauch. Sowohl freie als auch unfreie fudir konnten Kühe, Schweine, Korn, Schinken, Butter und Honig aus dem gemeinsamen Vorrat des Clans ausleihen, unter der Voraussetzung, daß sie ein Drittel des Wertes alles dessen, was sie geliehen hatten, sieben Jahre lang jährlich zurückzahlten. Am Ende dieser Frist wurde das Vieh ohne weitere Zahlungen ihr Eigentum. Die freien fudir hatten außerdem dem Fürsten gegebenenfalls Kriegsdienst zu leisten oder in Friedenszeiten eine
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