09 - Vor dem Tod sind alle gleich
festgelegte Zahl von Tagen auf dem Land des Fürsten zu arbeiten. Eadulf kam aus einer Gesellschaft, in der offene Sklaverei normal war, und hatte das Recht einer unfreien Klasse, solche Anleihen aufnehmen und sich die Freiheit erarbeiten zu können, stets als ein merkwürdiges Prinzip betrachtet. Ihm war bewußt, daß ein Mann mit schlechtem Land und von geringer Tüchtigkeit durch eine solche Anleihe unter Umständen in noch tiefere Armut geraten konnte, statt sich aus ihr herauszuarbeiten.
»Sprich weiter«, sagte er. »Gestern weckte dich dein Vater in aller Frühe. Was geschah dann?«
Muirecht schluchzte bitterlich bei der Erinnerung.
»Er hatte gerötete Augen. Er hatte geweint. Er sagte mir, ich solle mich anziehen und mich auf eine lange Reise vorbereiten. Ich fragte, was für eine Reise. Er wollte nicht darauf antworten. Ich vertraute meinem Vater. Er führte mich aus der Hütte. Von meiner Mutter und meinem jüngeren Bruder war nichts zu sehen, sie kamen nicht zum Abschied. Draußen wartete ein Mann mit einem Karren.«
Sie zögerte und rief sich die Szene in die Erinnerung zurück.
Eadulf wartete geduldig.
»Mit mir passierte dasselbe«, murmelte Conna, das zweite Mädchen. »Mein Vater ist ein daer-fudir. Ich habe keine Mutter mehr, sie starb vor drei Monaten. Ich mußte für meinen Vater kochen und saubermachen.«
Muirecht verzog das Gesicht, und das jüngere Mädchen verstummte.
»Draußen vor der Hütte hielt mein Vater…«, begann Muirecht und brach erneut in Tränen aus. »Er hielt mir die Arme fest, und der andere Mann fesselte und knebelte mich und warf mich auf seinen Karren. Durch einen Spalt sah ich, wie mein Vater einen kleinen Beutel mit klingendem Metall erhielt. Er drückte ihn an die Brust und lief in die Hütte zurück. Dann kletterte der Mann auf seinen Karren, warf Reisig auf mich und fuhr los.«
Plötzlich begann sie laut und lange zu schluchzen. Eadulf wußte nicht, wie er sie trösten sollte.
»Bei mir war es dasselbe«, ergänzte das kleinere Mädchen. »Ich wurde auf den Karren geladen und fand dieses Mädchen schon vor. Wir konnten nicht miteinander sprechen, denn wir waren ja gefesselt und geknebelt. Und seit gestern morgen haben wir nichts zu essen und zu trinken bekommen.«
Eadulf starrte sie fassungslos an, er vermochte das Schreckliche ihrer Erzählungen kaum zu begreifen.
»Wollt ihr mir damit sagen, daß eure beiden Väter euch tatsächlich an den Mann mit dem Karren verkauft haben?«
Muirecht konnte ihr Schluchzen nun unterdrücken und nickte trübe.
»Was sollen wir sonst glauben? Ich habe schon von armen Familien erzählen hören, die ihre Kinder verkaufen und sie in andere Länder bringen lassen in die…« Sie rang nach Worten.
»In die Sklaverei«, murmelte Eadulf traurig. Er wußte, daß das in vielen Ländern passierte. Jetzt wurde ihm klar, welchen Handel Gabrán den Fluß entlang trieb. Er kaufte junge Mädchen von ihren Familien und brachte sie den Fluß hinunter nach Loch Garman an der Küste, wo sie als Sklavinnen in die angelsächsischen Königreiche oder ins Land der Franken verkauft wurden. Arme Leute verbesserten ihre bedrängte Lage oft dadurch, daß sie eine ihrer Töchter verkauften. Er selbst hatte einen solchen Handel beim Volk der fünf Königreiche von Éireann noch nicht erlebt, weil das Rechtssystem so angelegt war, daß es jeden Menschen vor äußerster Armut schützte, und weil die Vorstellung, daß ein Mensch einen anderen in völliger Knechtschaft hielt, nicht bekannt war. Die Enthüllungen der beiden Mädchen waren um so schokkierender für Eadulf.
Eine Krähe, die kreischend von einem hohen Baum aufflog, ließ Eadulf zusammenfahren und aufblicken.
Ihm fiel ein, daß einer von Gabráns Leuten in die Berge kommen sollte, um die Mädchen abzuholen.
»Wir müssen diesen Ort verlassen, bevor die schlechten Leute kommen und euch holen«, sagte er, beugte sich nieder und schnitt mit seinem Messer die Fesseln der Mädchen an Händen und Füßen durch. »Wir sollten uns gleich aufmachen.«
Muirecht rieb ihre Handgelenke und Knöchel.
»Wir brauchen noch etwas Zeit«, wandte sie ein.
»Meine Hände und Füße sind ganz taub.«
Conna folgte ihrem Beispiel, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen.
»Aber wir müssen uns beeilen«, mahnte Eadulf. Ihm war die Gefahr bewußt geworden, in der sie alle schwebten.
»Wohin denn?« protestierte Muirecht. »Zu unseren Vätern können wir nicht zurück… nicht nach dem, was passiert
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