09 - Vor dem Tod sind alle gleich
anscheinend als Handgelenkfesseln gedacht. Sie hatten auf dem Boden gelegen und waren offen, und der Schlüssel steckte noch im Schloß.
Sie wollte sich schon abwenden, als ihr noch etwas auffiel. An einem hervorstehenden Nagel am Bein eines Tisches, der zum Mobiliar der Kajüte gehörte, hingen ein paar Stoffasern. Jemand war eilig daran vorbeigegangen und mit seiner Kleidung an dem Nagel hängengeblieben. Die Fasern waren von dem braungefärbten groben Wollstoff, den die meisten Mönche trugen. Nachdenklich löste sie die Fasern ab und tat sie in ihre Tragetasche.
Fidelma erhob sich und überdachte die Situation. Dies waren mehrere Stücke eines Puzzles. Sie fügten sich zusammen zu einem Bild von Gabráns letzten Augenblicken. Wenn man Äbtissin Fainder glaubte, daß sie den Mord nicht begangen hatte, insbesondere auch, daß sie noch draußen vor der Tür Gabráns Fall gehört hatte, dann hieße das, daß der Mörder noch in der Kajüte gewesen wäre. Das war offenkundig unmöglich, denn sonst hätte Fainder den Mörder gesehen und wäre auch angegriffen worden. Fidelma spähte aufmerksam umher, ob es noch etwas gäbe, was das Geräusch eines schwer auf den Boden fallenden Körpers hätte verursachen können. Sie fand nichts als die Leiche Gabráns.
Das bedeutete, daß entweder Fainder aus naheliegenden Gründen log oder daß der Mörder in den wenigen Augenblicken entkommen war, bevor die Äbtissin die Tür öffnete. Wieder suchte sie die Kajüte sorgfältig ab.
Die kleine Luke im Deck war nicht gleich zu finden. Sie war eng, und als Fidelma den Deckel hob und in die Dunkelheit hinunterstarrte, konnte sie nichts sehen, und ihr war klar, daß sie sich auch nicht hindurchzwängen konnte.
Sie nahm eine Lampe von einem Seitentisch und kehrte auf das Hauptdeck zurück.
»Heb mal den Deckel an, Enda«, bat sie beim Näherkommen. Mit einem raschen Blick auf die Äbtissin überzeugte sie sich davon, daß diese keinen groben braunen Wollstoff trug, sondern eine feingewebte schwarze Wollkutte. Äbtissin Fainder stand von dem Lukendeckel auf und trat beiseite, und der Krieger hob ihn mit Leichtigkeit an.
»Was ist, Lady?« fragte Enda. »Hast du etwas gefunden?«
»Ich will mich nur mal umsehen«, erklärte sie.
Als sie die Stufen von der Luke zum unteren Deck hinunterstieg, bemerkte sie, daß dort bereits eine Laterne brannte. Die Stufen führten zu einer großen Kajüte, die vom Hauptladeraum durch ein Schott mit Luke getrennt war. Sie schaute hindurch und sah, daß der Laderaum offenstand und leer war.
Fidelma untersuchte nun die Kajüte, in die sie gelangt war. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, daß hier Gabráns Mannschaft schlief, wenn sie an Bord war.
Weiter hinten, wo das Schiff schmaler wurde, befand sich ein weiteres, ein kleines Schott. Der Raum dahinter entsprach Gabráns Kajüte darüber, und in ihn mußte die kleine Öffnung in Gabráns Kajütenboden führen. Sie entzündete ihre Lampe an der Laterne im Mannschaftsraum und öffnete die kleine Tür. Diese besaß ein Schloß, doch der Schlüssel steckte innen. Ihr fiel als seltsam auf, daß innen, gleich hinter der Schwelle, drei andere, verschiedene Schlüssel verstreut lagen.
Als nächstes bemerkte sie den Geruch, der noch schlimmer war als in der Mannschaftskajüte. In ihm mischten sich der scharfe Gestank nach Urin und der Schweiß von zusammengepferchten Menschen. Doch der Raum war winzig, nicht mehr als zwei mal zweieinhalb Meter groß. Er besaß keinerlei Einrichtung außer ein paar Strohmatratzen und einem alten ledernen Schmutzwassereimer. Fidelma war zu groß, als daß sie den engen Raum hätte bequem betreten können, denn er war deutlich weniger als zwei Meter hoch. Die kleine Leiter zu der Luke oben machte ihn noch kleiner.
Sie fragte sich, wozu dieser Raum diente. Eine Strafkajüte? Aber für wen? Für Matrosen, die ihren Pflichten nicht nachkamen? Fidelma wußte, daß es solche Strafen auf Hochseeschiffen gab, aber nicht auf Flußschiffen, von denen die Mannschaften nach Belieben an Land gehen konnten. Sie hob die Lampe höher, und ihr Blick fiel auf zersplittertes Holz. Aus einem der dicken hölzernen Spanten des Schiffes hatte man etwas herausgerissen, was dort fest, sogar sehr fest, angebracht gewesen war. Ein Blick auf den Boden zeigte ihr ein Ende Kette und ein scharfes Stück Metall. Ohne Zweifel hatte jemand die Kette und ihre Befestigung mit diesem scharfen Metall aus dem Holz herausgelöst. Doch warum? Und wer? Sie
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