090 - Die Totenwache
vielleicht aber auch nicht. Wahrscheinlicher war, daß ich für alle Zeiten in das wesenlose, unbestimmbare Nichts jenseits von Raum und Zeit geschleudert werden würde.
Gab es Existenzen in diesem Niemandsland, das man sich als Sterblicher nicht vorstellen konnte? Ich mußte an den Geist des großen Dr. Faustus denken, den wir im Tempel der Magischen Bruderschaft beschworen hatten. Würde man mich nach meinem körperlichen Tod ebenfalls ins Diesseits zurückrufen können?
Ich erschauerte. Kalter Nieselregen hatte eingesetzt. Der Himmel über London war grau und verhangen. Ich stand vor dem Grundstück in der Baring Road, auf dem die Jugendstilvilla errichtet war. Das schmiedeeiserne Tor glänzte vor Nässe, und die vielfältigen Dämonenbanner schienen mich angrinsen zu wollen.
Ich betrat das Grundstück und ging langsam über den kiesbestreuten Weg auf das Haus zu. Von den Bäumen fielen die Blätter herab. Es roch nach moderndem Laub. In den Büschen raschelte es.
Ich wußte sofort, daß etwas nicht in Ordnung war, doch ich war viel zu erschöpft, um große Nachforschungen anzustellen. Ich wollte mich nur noch hinlegen und schlafen. Ich sehnte mich weder nach einem Gespräch mit meinen Freunden noch nach einem Erfahrungsaustausch mit Trevor Sullivan.
Es war nicht ausgeschlossen, daß mir Trevor mehr über die mysteriösen Erscheinungen mitteilen konnte, die man überall auf der Welt beobachtet hatte. Dennoch wollte ich jetzt nichts hören und sehen.
Das Ticken der Lebensuhr war zwar längst verstummt, doch in meinen Ohren rauschte es verräterisch.
Der Rhythmus des Tickens ließ sich nicht abschütteln. Ich hoffte, daß ich das Erlebnis im Spukhaus von Mother Goose nach einem tiefen Schlaf wieder vergessen würde.
In mehreren Zimmern der Jugendstilvilla flammte Licht auf. Es erlosch und flammte wenig später erneut auf. Ich lief weiter auf das Haus zu. Plötzlich hörte ich Miß Pickfords Stimme. Die alte Dame lachte schrill auf und verstummte dann abrupt. Irgendwo zerschellte scheppernd eine Flasche.
Ob sie betrunken ist? fragte ich mich erstaunt.
Ich rannte ins Haus. Meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Hinter der Treppe brannte Licht. Der Korridor, von dem aus man sowohl zur Küche als auch zur Kellertreppe gelangen konnte, war hell erleuchtet. Vor der Küchentür bemerkte ich die Scherben einer zersplitterten Glasschale.
Da ertönte Miß Pickfords Stimme erneut.
Sie redete wirres Zeug. Doch das war nicht das Schlimmste. Sie redete in einer Sprache, die mir vollkommen unbekannt war. Die Worte, die sie hervorstieß, erinnerten weder an eine afrikanische noch an eine asiatische Sprache.
Das Ganze wurde immer geheimnisvoller.
„Miß Pickford!" rief ich laut und deutlich. „Was ist los? Wo in aller Welt stecken Sie?"
Das Stakkato ihrer unverständlichen Rede brach ab. Dann meldete sie sich erneut.
„Ngruth abinth talarn… Dor - Dori - Dorian?"
Es fiel ihr offensichtlich schwer, meinen Namen richtig auszusprechen. Sie hatte mein Kommen bemerkt, doch sie war unfähig, mich anzusprechen.
Ich stieg die Treppe hoch.
Fast wünschte ich mir, Coco Zamis wäre jetzt im Haus. Doch Coco hatte mich verlassen. Sie war bei unserem gemeinsamen Sohn, den sie an einem unbekannten Ort versteckt hielt.
„Martha - wo stecken Sie?"
Ich betrat den Flur, von dem aus man in die Wohnräume des ersten Stockwerks gelangen konnte. Sämtliche Türen standen offen. Kissen und Decken waren herausgezerrt und verstreut worden. Aus dem Bad ertönte ein schepperndes Geräusch. Ich stieß die Tür ganz auf und erblickte Miß Pickford auf dem kleinen fellbespannten Hocker.
„Martha!"
Die alte Dame saß vor dem großen Wandspiegel. In der Rechten hielt sie den kleinen Handspiegel aus dem Golf von Morbihan. Doch darauf achtete ich im Augenblick nicht. Miß Pickford sah zum Fürchten aus. Anscheinend hatte sie tagelang nichts Richtiges gegessen. Neben dem Bad lag eine leere Bierflasche.
Miß Pickfords Gesicht war über und über mit Schminke bedeckt. In den grauen zerzausten Haaren steckten ein paar Lockenwickler. Sie hatte sich dunkle Lidstriche gezogen und falsche Wimpern angeklebt. Die grelle Farbe des dick aufgetragenen Lippenstiftes paßte weder zu ihrem Alter noch zu den anderen Farben des Make-ups.
„Martha… Was in aller Welt treiben Sie hier?"
Sie sagte ein paar unverständliche Worte. Ich konnte sie nicht übersetzen. Das allein wäre Grund zur Sorge gewesen. Denn es gab kaum eine Sprache auf der Welt, die ich
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