090 - Die Totenwache
nicht kannte. Einige nannten mich ein Sprachgenie, andere einen genialen Linguisten. Fest stand jedenfalls, daß ich mich in fast allen Sprachen der Erde zu Hause fühlte.
Doch Marthas verbale Ergüsse blieben mir unverständlich.
„Kommen Sie, Martha… Ich bringe Sie hinunter!"
Sie sträubte sich und starrte in den kleinen Handspiegel. Ich hatte ihn aus den Ruinen der versunkenen Stadt Ys gefischt. Es war ein außerordentlich seltenes Stück, dessen Vergangenheit ungeklärt war. Dennoch verstand ich nicht, warum sich Martha so hingebungsvoll damit beschäftigte.
Ich griff nach ihrer Hand, doch sie wich schreiend vor mir zurück.
„Martha! Hören Sie mit dem Unsinn auf! Wir sind erwachsene Menschen. Lassen Sie uns über alles reden. Vielleicht kann ich Ihnen helfen."
Sie wollte sich nicht helfen lassen. Ihre ganze Haltung drückte Protest aus. Sie schien es als Zumutung zu empfinden, daß ich ihr helfen wollte. Also mußte ich ihrem grotesken Treiben gewaltsam ein Ende bereiten.
Ich ergriff ihr Handgelenk. Sie stieß einen gellenden Schrei aus.
„Martha, so seien Sie doch vernünftig!"
Unter den geschwungenen Kunstwimpern leuchteten ihre Augen mit einem irren Ausdruck. Zornig wehrte sie sich gegen meinen Griff.
„Ich will Ihnen doch nur helfen, Martha…"
Kurz entschlossen entriß ich ihr den kostbaren Handspiegel.
Martha Pickford stieß einen gellenden Schrei aus. Speichel lief ihr über die angemalten Lippen. Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, machte ein paar Schritte auf mich zu, als wolle sie mir den Ys-Spiegel wieder entreißen, und brach dann kraftlos zusammen.
Sie wimmerte verzweifelt.
„Dorian - geben Sie mir den Spiegel zurück… Bitte!"
Plötzlich konnte ich Martha Pickford wieder verstehen. Sie redete wieder ganz normal. Hatte der Schock sie geheilt, oder wollte sie mich nur in Sicherheit wiegen? War sie von einem gefährlichen Dämon besessen?
„Martha - was war mit Ihnen los?"
„Ich bin müde, Dorian.. Alles ist so verwirrend… Ich war schön - die schönste Frau der Welt! Doch jetzt bin ich wieder die alte, häßliche Miß Pickford!"
Sie schluchzte verzweifelt auf. Dicke Tränen liefen ihr die Wangen herunter und lösten das Makeup auf.
Ich hängte mir den Spiegel um den Hals. Die goldene Kette legte sich wie von selbst um meinen Nacken. Da die Fläche des Kleinods kaum handtellergroß war, konnte man das Ganze für ein originelles Schmuckstück halten.
„Sie sind weder häßlich noch atemberaubend schön, Martha", tröstete ich Sie. „Sie gefallen mir so, wie Sie sind!"
„Es war ein schöner Traum", flüsterte sie schwach. „Ich wollte - ich wäre nie daraus erwacht. Aber vielleicht ist es besser so, Dorian…"
Ich wollte etwas erwidern, doch sie war bewußtlos geworden. Ihr Atem ging unregelmäßig, und ihre Schläfenadern traten reliefartig hervor. Ich wischte ihr die zerlaufenden Reste der Schminke ab und hob sie dann vorsichtig auf.
Dabei sah ich mich im Wandspiegel. Der zierliche Ys-Spiegel, den ich mir umgehängt hatte, blitzte im Licht auf. Vor meinen Augen verschwammen sekundenlang die Konturen meiner Umgebung. Dafür sah ich etwas anderes: Auf der kaum handtellergroßen Fläche des mysteriösen Handspiegels erblickte ich das Gesicht einer wunderbaren Frau.
Langes Blondhaar ringelte sich um ihre Schultern. Ihr kirschroter Mund öffnete sich einen Spalt breit zu einem sinnlichen Lächeln. Ihre großen Augen wirkten traurig.
Ich schüttelte den Kopf. Als ich wieder aufblickte, war die Vision verschwunden. Verwirrt sah ich mich um. Von der geheimnisvollen Blonden war nichts mehr zu sehen. Ich mußte mich ernstlich fragen, ob ich jetzt auch dem unerklärlichen Einfluß unterlag, der auf die Jugenstilvilla ausgeübt wurde.
Trevor Sullivan hockte im Keller. Er sah nicht einmal auf, als ich die Räume der Mystery Press betrat. Er schnitt Zeitungsartikel aus und sortierte sie anschließend. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß er nicht einmal meine Begrüßungsworte erwiderte.
„Können Sie mir sagen, Trevor, welches Ereignis bei Martha dieses Verhalten ausgelöst hat?" Trevor Sullivan zerknüllte ein Zeitungsblatt.
„Wissen Sie überhaupt, was dort oben los war?" Ich deutete mit dem Daumen nach oben. Miß Pickford lag in ihrem Zimmer und schlief.
Sullivan hob bedauernd die Schultern.
„Keine Ahnung, Dorian… Schön, daß Sie wieder da sind. Waren Sie lange fort?"
Sullivan wandte sein scharfgeschnittenes Gesicht wieder dem Schreibtisch
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