0902 - Das Mädchen und die Loower
ging dieser Frage nicht weiter nach, ich hatte auch keine Gewissensbisse.
Ich hatte eine schnelle, gefühlsmäßige Entscheidung getroffen, und dazu stand ich.
Hergo-Zovran würde vermutlich glauben, daß die Terraner den Sender entdeckt hatten, den ich am Körper trug, und daraufhin würde er sie zweifellos höher einschätzen - und folglich vorsichtiger taktieren. Die Terraner dagegen hatten keine Ahnung, welche Entscheidung ich getroffen hatte.
Der Erste Terraner verließ mich wieder und ließ mich mit jenen drei Menschen allein, mit denen ich den meisten Kontakt hatte. Jennifer Thyron war mir inzwischen geradezu sympathisch geworden, Ferengor Thaty war ein gradliniger Charakter und eine integre Person, und Ronald Tekener versteckte sein Einfühlungsvermögen unter einer rauhen Schale. Ich verstand selbst nicht mehr, warum ich ihn anfangs gefürchtet hatte. Vielleicht war mein schlechtes Gewissen daran schuld gewesen. „Was wollen Sie sehen, Goran?" erkundigte sich Ferengor Thaty. „Den Befehlsstand des Ersten Terraners?
Die Feuerleitzentrale? Das Zentrum für strategische Hochrechnungen?
Oder eine totale Exkursion?"
„Ich denke nicht daran", erwiderte ich. „Mich interessieren die technischen Anlagen weniger als die Menschen, die sie bedienen. Könnten sie einige Gespräche mit Mitgliedern der Mannschaft arrangieren? Oder noch besser, könnte ich mit den Leuten reden, ohne daß sie vorbereitet sind?"
„Ein relativ bescheidener Wunsch", meinte Thaty. Er machte einen überaus zufriedenen Eindruck, und es schien mir, daß er Jenny und Tek einen fast triumphierenden Blick zuwarf, so als sähe er durch meine Einstellung etwas bestätigt, was er vorausgesagt hatte. „Ich hätte eher darauf getippt, daß du dir ein genaues Bild unserer Verteidigungskraft machen würdest, Goran", sagte Tek. „Wer weiß", erwiderte ich, „vielleicht tue ich das auch und täusche mein Interesse an den Menschen nur vor."
„Du bist ein Schlitzohr, Goran", sagte Tek.
Ich wußte, was er meinte. Seltsam, ich verstand mich mit diesem Meister der Ironie immer besser. Ich wußte, woher sein Spott kam, ich wußte seine versteckten Andeutungen zu interpretieren. Es war, als hätte ich den Kode für eine Geheimsprache gefunden, einer Sprache, die nicht nur aus der Ratio kam, sondern aus einer dreischichtigen Gefühlswelt.
Das wäre vor wenigen Tagen noch nicht denkbar gewesen.
Wir machten uns zu viert auf den Weg. Ich war sicher, daß meine Begleiter keine Möglichkeit gehabt hatten, die Mannschaft von Imperium-Alpha auf unser Kommen vorzubereiten.
Dennoch wurde meine Anwesenheit von allen Menschen, denen ich begegnete, mit Fassung und Selbstverständnis aufgenommen.
Nirgendwo schlug mir Haß oder Ablehnung entgegen. Ich wurde nicht beschimpft oder angepöbelt, von Handgreiflichkeiten, wie ich sie auf dem Mars erlebt hatte, gar nicht zu reden. Natürlich brachte man mir keine überschwengliche Freundlichkeit entgegen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Doch die Männer und Frauen, mit denen ich sprach, hatten zumindest keine Ressentiments gegen mich. Und daraus schloß ich, daß sie auch nicht grundsätzlich gegen mein Volk eingestellt waren. „Ich möchte gar nicht mehr zum Mars zurück", sagte ich während des Rundgangs einmal zu meinen Begleitern. „Wenn mein Volk einen Gesandten für Terra bestellt, dann bewerbe ich mich um diesen Posten."
Ich fühlte mich in dieser Umgebung nicht als Fremder, ja, wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich unter meinen Artgenossen in der Neunturmanlage noch mehr das Gefühl gehabt, nicht dazu zu gehören. „Sie haben sich gut an uns angepaßt", stellte Ferengor Thaty fest. „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß ein Loower einer so starken psychischen Akkommodation und Assimilation fähig wäre. Ich glaube, wir müssen von jetzt an umdenken."
Ich überlegte, ob ich ihm verraten sollte, daß ich ein entarteter Loower war und des entelechischen Denkens nicht mehr fähig. Doch das hätte wahrscheinlich zu neuen Verwicklungen und Mißverständnissen geführt.
Warum sollte ich meine terranischen Freunde durch ein solches Geständnis enttäuschen? Vielleicht genügte es, daß ich sie langsam zu verstehen begann, um etwas von diesem Verständnis auf meinen Türmer zu übertragen. „So schwer ist es gar nicht, die Menschen zu verstehen", sagte ich. „Und umgekehrt", sagte Jenny. „Ich jedenfalls blicke optimistisch in die Zukunft. Du mußt nur Hergo-Zovran klarmachen
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