0902 - Zurück zu den Toten
dieser beiden Serrano-Schwestern fahren. Ich hoffe, du weißt, wo wir die Frauen finden können.«
»In der Nähe von Tiptree liegt ihr Haus.«
Shao schüttelte den Kopf. »Den Ort kenne ich nicht.«
»Aber ich«, sagte Suko und erhob sich. »Ich habe nachgeschaut. Zu lange werden wir nicht unterwegs sein.«
Shao warf einen Blick auf die Uhr. »Noch knapp vier Stunden bis Mitternacht. Du bist eigentlich überfällig und hättest längst Feierabend machen müssen.«
»Es war so abgesprochen, daß du mich abholst. Außerdem konnte ich nicht wissen, daß noch etwas dazwischenkommen würde.« Suko holte seine gefütterte Jacke vom Haken und streifte sie über. Auch Shao trug ein derartiges Kleidungsstück und dazu eine schwarze Hose. Ihr langes Haar hatte sie hochgesteckt. In der schwarzen Flut schimmerten seitlich zwei rote Kämme.
»Willst du nicht Sir James Bescheid geben?«
»Nein, er hat heute wieder Clubabend und möchte seine Ruhe haben, denke ich.« Er öffnete Shao die Tür. »Außerdem, brennt das Haus ja noch nicht.«
»Meinst du?«
»Ja.«
»Ich weiß nicht«, sagte Shao leise und ging durch das leere Vorzimmer.
Sie schaute dabei auf ihre Schuhe mit den flachen Absätzen.
»Überzeugt bin ich davon nicht.«
»Hast du Beweise?«
»Nein, nur mein Gefühl.«
»Und was sagt dir das?«
Shao gab die Antwort, als beide vor dem Lift standen. »Es sagt mir, daß man den beiden Schwestern auf keinen Fall trauen kann. Hinter ihnen kann eine Bösartigkeit stecken, über die wir bisher noch nicht nachgedacht haben…«
***
Amanda Serrano fühlte sich glücklich. Sie mußte sehr weit zurückdenken, um sich erinnern zu können, wann sie dieses Glücksgefühl zum letztenmal so intensiv erlebt hatte. Sie wußte genau, daß sich in dieser Nacht etwas ändern würde. Und zwar nicht nur irgend etwas, sondern möglicherweise - nein, bestimmt sogar - ihr gesamtes Leben. Das Schicksal hatte sie und ihre Schwester dazu ausersehen, in Welten hineinzuschauen, die sehr fremd waren, deren Tore für sie aber weit offenstanden. Beide würden mit Vorgängen in Berührung kommen, von denen andere Menschen nicht mal träumten und sie auch nicht einordnen konnten.
Bei ihnen aber war es anders. Sie waren aus der Masse hervorgehoben worden, sie würden jubeln können, und sie waren so etwas wie ein Katalysator für das Fremde.
Herrlich, wunderbar, so hatte ihr Leben endlich einen richtigen Sinn bekommen.
Die Frau stand noch immer am Fenster. Daß es kalt war, störte sie nicht.
Die Hitze in ihrem Innern glich alles andere aus. Amanda sah auch nicht mehr so aus wie sonst. Das Haar hatte sie gelöst und ließ es lang bis auf ihre Schultern fließen. Der neue Schnitt machte ihr Gesicht weicher, und in ihren Augen stand ein Leuchten, als würde sie einen Geliebten erwarten.
Irgendwo stimmte der Vergleich auch. Zwar sah sie den Vampir nicht als ihren Geliebten an, viel fehlte aber nicht. Er war etwas Außergewöhnliches, etwas Wunderbares, ein Geschöpf, wie es nur eine dämonische Laune der Natur herstellen konnte, und für die Frau am Fenster gab es keinen Grund, sich davor zu fürchten.
Nein, das auf keinen Fall. Je mehr Zeit verstrich, um so stärker wurde ihre Erwartung. Was sollten die Blutsauger noch länger unter den Steinen liegen und schmachten? Die Welt wartete auf sie, denn die Welt war für sie prall gefüllt mit frischer, flüssiger Nahrung.
Das Licht hatte sie nicht eingeschaltet. Sie wollte nicht im Hellen stehen, denn schon als normaler Mensch fühlte sich Amanda als Teil der Finsternis. Es machte ihr einfach Spaß, in die Dunkelheit und auch gegen den Himmel zu schauen, wo der Mond als blasser Wächter stand und die Erde beobachtete.
Ein Kraftspender für alles, was nicht lebte und trotzdem irgendwo mit Leben erfüllt war und deshalb auch existieren konnte. In der Höhe war der Wind stärker. Er trieb keine dicken Wolken über den Himmel, sondern nur mehr Schleier, die sich auch hin und wieder gegen die Mondscheibe drückten und dem Erdtrabanten ein verschwommenes Aussehen gaben. Das Bild, das die Natur ihr bot, war düster, aber Amanda empfand es gleichzeitig auch als geheimnisvoll und prall gefüllt mit einem Leben, zu dem ihr bisher der Kontakt versagt geblieben war.
Zwar hörte sie die Tritte im Flur, aber sie achtete nicht darauf. Es konnte nur ihre Schwester sein, die nach oben gekommen war. Wenig später wurde die Tür aufgestoßen. Auch jetzt drehte sich Amanda nicht um.
»Du bist noch immer
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