0903 - Nächte der Angst
liebte!
Okay - sie arbeitete im Zeichen des Kreuzes, aber das Kreuz, das sie meinte, stand nicht auf dem Kopf, und sie gab ehrlich zu, daß dieser andere Anblick sie fürchterlich erschreckt hatte, denn Vera gehörte auf keinen Fall zu den Menschen, die aus einer anderen Welt kamen und mit den Vorgängen der normalen Welt nichts zu tun haben wollten. Sie hielt die Augen offen, kannte sich aus und wußte auch, was es bedeutete, wenn irgendwo ein Kreuz mit dem Kopf nach unten hing.
Dann war es entweiht. Dann war es zum Spottbild gemacht worden. Da hatte dann ein anderer die Kontrolle übernommen, und diese andere Person war letztendlich der Teufel. Nicht er persönlich, denn ihn konnte man Veras Meinung nach nicht einordnen, nein, es war sicherlich einer seiner Helfer, und da wiederum kam sie auf den Punkt.
Lou Ryan!
Für sie gab es keine andere Möglichkeit, daß er in einem direkten Zusammenhang mit diesem bösen Vorgang stand, auch wenn sich Vera nicht erklären konnte, wie er es geschafft hatte, diesen Schatten aus dem Fenster fallend über ihr Bett fließen zu lassen. Aber er war da gewesen, sie hatte ihn sich nicht eingebildet, und sie war auch nicht grundlos aus dem Bett geklettert.
Auf dem Boden war sie endlich eingeschlafen. Aber an einen ruhigen Schlaf konnte sie sich nicht erinnern. Es waren Stunden des Horrors gewesen. Sie erinnerte sich mit Schrecken an die Alpträume, die sie gequält hatten. Immer wieder waren die Bilder hochgestiegen, und sie hatte diese Szenen nicht verdrängen können, deshalb erinnerte sich Vera auch jetzt so deutlich daran, wo sie auf dem Boden saß und ihren Rücken gegen die Breitseite des Betts gelehnt hatte.
Müde strich sie über Stirn und Augen.
Wieder sah sie die Flammen. Grelles Feuer, in dem Gesichter tanzten. Fratzen, scheußlich und eklig, mit widerlichen Mäulern und Geschwüren, zudem blasphemisch, denn sie verhöhnten und bespuckten diejenigen Dinge, die ihr so wertvoll bisher in ihrem Leben gewesen waren. Das alles stieg immer wieder in ihr hoch, und sie sah sich dabei im Zentrum, nackt, schutzlos, mit einem Menschen tanzend, der Lou Ryan war, aber kein normales Gesicht mehr hatte, sondern die Fratze des Teufels, mit einer blauen Zunge, die peitschenartig aus dem Mund schlug und sich dabei obszön um die Lippen drehte.
»Nein, nein, nein!« keuchte sie, um sofort danach mit einem Ruck in die Höhe zu springen. Zu schnell, denn sie spürte, daß ihr Kreislauf noch nicht okay war, deshalb ging sie etwas taumelig zur Seite, stützte sich ab und atmete tief durch.
Die Nacht war vorbei. Der Tag hatte die Dunkelheit vertrieben. Über London lag grau der Morgen.
Kein Wetter, um sich wohl zu fühlen oder mit freudigen Gedanken zur Arbeit zu gehen, auch wenn das Wochenende in Sicht war. Es war ein normaler Tag. Jeder Mensch würde irgendwie seinen normalen Weg gehen, auch Vera bildete da keine Ausnahme, nur fürchtete sie sich davor, ihr Büro zu betreten. Sie ahnte schon jetzt, daß die nächsten Stunden nicht so routiniert verlaufen würden, wie sie es gewohnt war. Irgend etwas hatte sich verändert, nicht nur in der Nacht, auch jetzt am Tag, und dieses Andere schwebte über ihr.
Sie schauderte zusammen, als sie sich auf das kleine Bad zubewegte. Bevor sie das Zimmer allerdings verließ, warf sie einen Blick zurück auf das Bett.
Es stand dort wie immer, und kein Schatten zeichnete sich auf der Decke ab. Das Oberbett lag noch auf dem Boden, damit hatte sich Vera Tanner später zugedeckt.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. Hatte sie alles nur geträumt, hatte sie sich den Schatten eingebildet? Nein, er war, ebensowenig eine Einbildung gewesen wie auch Lou Ryan. Den gab es tatsächlich, und schon jetzt fürchtete sie sich davor. Sie war sicher, daß es zu einer weiteren Begegnung kommen würde.
Wie eine Kranke schlich Vera in das winzige Bad, wo sie vor dem Spiegel stehenblieb und ihr Gesicht genau betrachtete. Es war kein Kainsmal zu entdecken, aber sie erschrak trotzdem über den Ausdruck. Sie sah so müde aus, völlig geschafft, als hätte sie in der Nacht kein Auge zugetan. Das dunkelbraune Haar klebte auf ihrem Kopf. Die ebenfalls dunklen Augen wirkten wie zwei kleine, trübe, schlammige Teiche. Aus ihnen waren das Leben und die Freude gewichen, dafür hatte es die Resignation geschafft, Einzug zu halten.
»Er macht mich fertig«, flüsterte sie. »Er schafft es tatsächlich und macht mich fertig. Er ist brutal und subtil zugleich. Er weiß genau, wie man
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