0903 - Nächte der Angst
einen Menschen anzufassen hat.« Sie nickte, um sich selbst, zu bestätigen. Dann drängte sich der nächste Gedanke in ihr Gehirn. Sie dachte daran, daß sie etwas unternehmen mußte, doch aus eigener Kraft würde sie es kaum schaffen. Sie fühlte sich schwach und so, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
Was blieb?
Hilfe von außen. Sie brauchte Hilfe, und sie mußte sich einem Menschen anvertrauen. Aber wer konnte ihr helfen? Wer hatte schon die Macht, gegen so etwas Furchtbares anzugehen? Sie wußte es nicht. Hinzu kam, daß ihr wohl kaum jemand glauben würde.
Auch nicht der Pfarrer. Er hieß Wingate und gehörte zu den Menschen, die ihre Zukunft schon hinter sich hatten, wie er immer sagte. Schließlich war er über Sechzig und wollte bald Schluß machen, um mit seinen drei Enkelkindern noch auf Reisen gehen zu können. Wingate wollte, daß alles seinen normalen Gang lief. Jede Störung von außen ärgerte ihn, und eine derartige Störung, wie Vera sie erlebt hatte, würde bei ihm auf kein Verständnis stoßen.
Er würde sie auslachen oder sogar richtig sauer werden. Nein, Sixton Wingate war keine Hilfe.
Wer blieb noch?
Alex Preston, ihr Verlobter. Im Prinzip schon. Alex war Polizist, er würde ihr auch zuhören, er würde Verständnis haben, aber wie würde er reagieren, wenn er hörte, daß sich seine Verlobte diesem Menschen hingegeben hatte?
Vera liebte Alex, er liebte sie, aber vertrug diese junge Liebe einen derartigen Schnitt?
Die Frau- konnte darauf keine Antwort geben. Sie sah sich noch immer im Spiegel, und ihre schweren Gedanken hatten ihr Gesicht stärker gezeichnet. Schatten und Sorgenfalten verteilten sich auf der grauen Schlafhaut. Sie roch sogar ihren eigenen Schweiß. Es wurde Zeit für sie, unter die Dusche zu gehen.
Das heiße Wasser tat ihr gut. Lange blieb sie dort stehen. Es machte ihr an diesem Tag nichts aus, ob sie- zu spät kommen würde oder nicht, heute war alles anders geworden. Seit sie Lou Ryan kannte, verlief ihr Leben eben in fremden Bahnen.
Später trocknete sie sich automatisch ab und kämmte sich. Ein Scheitel teilte die Frisur in der Mitte.
Der Schnitt gab ihr ein junges, mädchenhaftes Aussehen. Manchmal ärgerte sie sich darüber, vor allen Dingen dann, wenn ältere Besucher sie nicht richtig ernst nahmen, heute aber war es ihr egal.
Sie zog sich langsam an. Den Slip, den BH, den grauen Rock, den weinroten Pullover, die flachen Schuhe. In ihrem Outfit sah sie sehr brav aus.
Vera Tanner gehörte zu den Menschen, die am Morgen gut und gern frühstückten. In den letzten Tagen jedoch hatte sie am Morgen kaum etwas zu sich genommen, und das würde sich auch heute nicht ändern. Vera betrat die Küche, kochte Kaffee und überlegte, vor dem offenen Kühlschrank stehend, was sie herausholen sollte.
Ihr fiel nichts ein.
Vielleicht etwas Käse oder Konfitüre. Beides ließ sie im Schrank und entschied sich für einen fettarmen Joghurt. Am liebsten hätte sie gar nichts gegessen, das aber wollte sie auch nicht. So setzte sie sich an den Tisch, aß, trank den heißen Kaffee und bekam kaum mit, was sie eigentlich tat. Vera bewegte sich wie eine Puppe, in der ein Motor lief, und sie mußte immer wieder an die letzte Nacht und auch an den vor ihr liegenden Tag denken.
Was würde er bringen?
Es begann mit dem Telefon, das sich meldete. In der Stille klang das Geräusch mehr als doppelt so laut, und sie schrak zusammen, als hätte man sie geschlagen.
Das war er - oder?
Sie wußte es. Lou würde sie anrufen. Er würde sie verhöhnen, er würde sie auslachen, und so hatte es überhaupt keinen Sinn, daß sie den Hörer abhob.
Trotzdem stand sie auf. Mit zitternden Knien umging sie den Tisch, noch einmal holte sie Luft, dann umfaßte sie den Hörer und hob ihn behutsam an.
»Ja…«
»Endlich, Vera, endlich. Ich dachte schon, du wärst nicht mehr in der Wohnung.«
»Alex!«
»Ja, ich bin es. Wieso? Du sprichst so seltsam. Hast du mit mir nicht gerechnet?«
»Doch, schon, aber…«
»Was ist denn?«
»Nichts.«
»Lüg nicht, Vera. Du hast was. Deine Stimme hört sich matt und müde an.«
»Ja, da hast du recht. Ich will ehrlich sein, Alex. Besonders geschlafen habe ich nicht. Es war eine fürchterliche Nacht. Ich habe mich nur im Bett herumgewälzt.«
»So etwas gibt es.«
»Sicher.«
»Und doch mache ich mir Sorgen, Vera. Du bist nicht mehr dieselbe. Ich hab es gestern abend gemerkt. Etwas ist mit dir, und du solltest darüber
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