0903 - Nächte der Angst
eigenen Augen sah.
Blut!
Blut in der Kirche! Was bezweckte der Unbekannte damit?
Nein! strahlte es durch ihr Gehirn. Das war kein Unbekannter, das war eine bestimmte Person!
Vera bewegte ihre Lippen und flüsterte den Namen Lou Ryan so leise, daß der Pfarrer es nicht hören konnte. Noch immer stand sie auf der Stelle, die Hände zu Fäusten geballt, und ihr Blick wechselte zwischen dem beschmierten Steinboden und den ebenfalls beschmierten Wänden hin und her.
Lou Ryan hatte es getan, nur er konnte sich diese blasphemische Scheußlichkeit ausdenken. Er wollte seine Macht demonstrieren.
Vera Tanner überwand sich und ging weiter. Sie hütete sich davor, in die Blutlache hineinzutreten, sondern umging sie an der vorderen Seite, denn ihr war etwas aufgefallen, das sie im Halbdunkel des Kirchenschiffs nicht so genau aus der Entfernung hatte sehen können. Jetzt aber, wo sie näher an eine bestimmte Stelle hinter dem schlichten Altar trat, auf dessen Platte ein frischer Blumenstrauß neben einer Kerze stand, konnte sie es besser sehen.
Jemand hatte das große Holzkreuz manipuliert. Es hing jetzt mit dem oberen Ende nach unten. Vera erbleichte noch stärker. Sie wurde durch diesen Anblick wieder an die vergangene Nacht erinnert, als der Schatten des Kreuzes auf sie und über das Bett gefallen war.
Umgekehrt!
Ein Zeichen des Satans!
Und auch hier hatte der Teufel durch seinen verfluchten Vertreter Lou Ryan die Oberhand gewonnen. Er hatte die Kirche entweiht, ein Gotteshaus beschmutzt, und erst jetzt spürte Vera Tanner so richtig, wozu diese Person fähig war.
Sie haßte Lou.
Sie hätte - nein, sie hätte nicht. Sie wußte genau, daß sie gegen ihn nicht ankam. Wäre er jetzt zu ihr gekommen, sie hätte weiche Knie bekommen, sie hätte ihm wieder nachgegeben, wie schon einmal.
Da war etwas in ihr, mit dem sie nicht fertig wurde. Lou Ryan besaß eine ungewöhnliche Macht und Ausstrahlungskraft. Auch wenn sie ihn nicht mit den eigenen Augen sah, hatte sie den Eindruck, daß er stets präsent war. Immer in der Nähe, immer beobachtend, um die Folgen seines großen Siegs über den Feind zu genießen.
Vera weinte und merkte es kaum. Die Tränen rannen wie kalte Perlen an ihren Wangen entlang. Sie drehte sich wieder um und ging zurück zu Sixton Wingate. Wieder passierte sie die große Blutlache auf dem Boden.
An den ekligen Geruch würde sie sich nie gewöhnen können, sie atmete deshalb extrem flach. Neben dem Pastor blieb sie stehen. Er hockte noch immer wie ein Häufchen Elend in seiner schmalen Kirchenbank, zur Seite gelehnt, die Hand dorthin gepreßt, wo das Herz schlug. Er hatte es am Herzen, und Vera befürchtete, daß es schlimmer werden konnte. Sie dachte daran, einen Arzt zu benachrichtigen.
Wingate schaute hoch. Er bewegte zunächst nur seine Lippen, dann erst sprach er. »Wer?« fragte er mit sehr leiser Stimme. »Wer tut so etwas, Kind? Wer macht das?«
Vera wußte es, aber sie gab es nicht zu und hob statt dessen nur die Schultern.
Der Pastor überlegte und schaute auf seine Hände, als könnten sie ihm die Lösung präsentieren. »Ich kann es mir denken, Kind, ich kann es mir denken.«
»Ja…?«
»Es ist das Böse in dieser Welt, von dem in der letzten Zeit immer mehr zu hören und zu lesen war. Gottes Feinde haben viele Gesichter. Es sind nicht nur die Menschen, es sind auch die Dämonen der Finsternis, die so grausam sein können. Furchtbare Gestalten mit noch schrecklicheren Taten. Sie haben den ewigen Kampf nicht aufgegeben. Für sie war es kein Ende, sondern immer ein neuer Beginn. Jeden Tag und jede Nacht liegen sie auf der Lauer und suchen nach Lücken oder Schwachstellen bei den Menschen. Sie stoßen hinein, sie sind eiskalt, sie finden die Schwächen und loten sie auch aus. Das sage ich dir. Die Hölle schläft nie, ich weiß es, ich bin lange genug Priester, und auch viele meiner katholischen Kollegen denken so. Aber ich muß auch Realist sein und zugeben, daß ich jetzt zu alt geworden bin, um gegen sie zu kämpfen. Ich hatte gedacht, daß der Kelch an mir vorübergehen würde, aber ich habe mich geirrt. Er ist nicht vorübergezogen, du siehst die Folgen.« Er schluchzte auf und strich durch die weiche Haut in seinem Gesicht.
Vera Tanner stand neben ihm und wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Automatisch umfaßte sie eine Hand des Pastors, während ihr Blick ins Leere gerichtet war.
Lou Ryan hatte sich auf besonders schamlose und üble Art und Weise gezeigt. Er hatte
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