0903 - Nächte der Angst
stand.
Dort ließ sie den Pastor los. Vera lehnte sich gegen die Wand. Sie brauchte jetzt ebenfalls eine Stütze.
Der Ausschnitt ihrer kleinen Welt drehte sich vor ihren Augen. Die Decke, die andere Wandseite, alles befand sich in Bewegung, und auch das Gummigefühl in den Knien war da.
Sie atmete mit offenem Mund. Automatisch wischte sie den Schweiß aus ihrem Gesicht weg. Das Herz schlug wieder schneller, der Druck bereitete ihr Schmerzen, und die Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Es war keine Erleichterung, die sie überkommen hatte.
Sixton Wingate stand in ihrer Nähe. Er stützte sich auf dem Handlauf des Geländers ab, atmete schwer und stierte aus glanzlosen Augen auf die Stufen.
»Ich werde Sie nach oben bringen, Mr. Wingate«, bot sich Vera an. »Es ist besser für Sie.«
Er nickte. »Ja, das glaube ich auch«, flüsterte er dann. »Ich werde wohl aufhören mit meiner Arbeit. Ich kann es nicht mehr. Ich habe in den langen Jahren meines Berufs viel erlebt, aber Blut in meiner Kirche, es war einfach zuviel. Für mich ist es ein Zeichen gewesen, mich zurückzuziehen. Ich will nicht mehr, ich kann es auch nicht, das müssen Sie mir einfach glauben, Vera.«
»Natürlich, Mr. Wingate. Aber zuvor wird es besser sein, wenn Sie sich hinlegen. Sie müssen jetzt die nötige Ruhe finden, alles andere ist zweitrangig.«
»Sicher, Sie haben recht, Vera.«
Sie hatten es endlich geschafft, die Holztreppe zu überwinden. Das dunkle Material schimmerte in einem braunroten Ton, der Handlauf wirkte wie blank gewienert, und auch die Stufen waren peinlich sauber. Zwei Frauen aus der Gemeinde teilten sich die Arbeit und putzten im Pfarrhaus.
In der ersten Etage schaltete Vera das Licht ein. Sein Schein wurde von einem schmalen Teppich aufgefangen, der glatt auf dem Boden lag. Auf der linken Seite des mit einer beigefarbenen Tapete beklebten Flurs lag das Zimmer des Pastors, direkt über ihrem Büro, und die Tür war nicht geschlossen.
Vera drückte sie auf und schob Wingate über die Schwelle. Ihr Blick fiel auf das breite Doppelbett.
Während sie es sah, entstand eine grausame Vorstellung. Auf dem Weg nach oben hatte sie damit gerechnet, die weihe Decke des Betts voller Blut zu sehen. Das war glücklicherweise nicht eingetroffen.
Tief gebeugt ging der ältere Mann auf sein Bett zu. Er setzte sich auf den Rand und faltete die Hände, den Oberkörper hielt er dabei nach vorn gebeugt.
»Es ist am besten, wenn Sie sich jetzt hinlegen, Mr. Wingate. Sollte jemand kommen und nach Ihnen fragen, so werde ich sagen, daß Sie sich nicht wohl fühlen.«
»Danke, Vera«, flüsterte er. Mühevoll hob er den Kopf und schaute seine Helferin an. »Ich bin froh, daß Sie an meiner Seite geblieben sind. Ich werde Sie in meine Gebete mit einschließen.«
Die Frau zuckte zurück. Dieser letzte Satz, so lieb er gemeint war, hatte sie plötzlich gestört. Sehr schnell schloß sie die Tür von außen und kam erst im Flur dazu, darüber nachzudenken. Wie weit ist es schon mit mir gekommen? fragte sie sich. Fühle ich mich jetzt schon bei dem Wort beten verletzt? Mag ich diese Begriffe nicht mehr? Stören sie mich?
Vera Tanner war verwirrt. In ihrer Brust kämpften zwei Seelen. Sie merkte in diesem Flur, daß der Vergleich stimmte, der einmal von Goethe niedergeschrieben worden war.
Wie eine Schlafwandlerin schritt sie die Treppe hinunter. Sie erreichte die untere Etage und blieb dort zunächst einmal stehen. Nachdem sie mehrmals tief Luft geholt hatte, ging es ihr etwas besser.
Die nächsten Schritte bis zum Büro legte sie normal zurück, zog die Tür auf und blieb wie vom Blitz erwischt stehen.
Ihr Blick war auf das Kreuz an der gegenüberliegenden Wand gefallen. Es hing noch dort.
Nur hatte es jemand umgedreht!
***
Lou! schoß es ihr durch den Kopf. Lou ist da gewesen. Er ist gekommen, er ist wieder verschwunden, und es gibt nichts, was ihn noch aufhalten könnte.
Sie stöhnte leise, denn plötzlich war das Grauen wieder zurückgekehrt. Sie starrte ins Leere, sie wollte das Kreuz nicht mehr sehen, aber sie kam nicht daran vorbei, als sie auf ihren Schreibtisch zuging. Vera passierte ihn und ging vor bis zur Wand. Das Kreuz hing jetzt zum Greifen nahe. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken, um es wieder in, seine alte Position zu bringen, und der rechte Arm zuckte auch schon, als sie es dennoch ließ.
Nein, es hätte sie zuviel an Überwindung gekostet, das Kreuz überhaupt anzufassen. Ihr kam es vor wie ein Gegenstand,
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