0903 - Nächte der Angst
bewiesen, daß ihn auch ein Gotteshaus nicht abschreckte. Sein Herr und Meister konnte nur der Chef der Hölle sein.
Der Teufel also! Beinahe hätte sie gelacht, als sie daran dachte. Wer war denn der Teufel? Bestimmt nicht der, wie er auf alten Bildern und Holzstichen dargestellt wurde. Nein, da hatten die Menschen nur nach Vergleichen gesucht. Der Teufel war ebensowenig ein bocksbeiniger Geselle wie der Herrgott ein alter Mann war. Es mochte sein, daß sich der Satan hin und wieder so zeigte, um die Menschen in ihren Vorstellungen zu bestätigen, zumeist aber ging er subtiler vor, und das hatte Vera, so schlimm es sich auch anhörte, am eigenen Leib erlebt. Der Teufel oder seine Ausstrahlung hatten sie längst erreicht, eben in Gestalt dieses Lou Ryan, dem sie hörig geworden war.
Früher hatte ihr die Kirche einen gewissen Schutz gegeben. Hinter ihren Mauern hatte sie sich immer geborgen gefühlt. Diese Zeiten waren nun dahin. Die Kirche bot keinen Schutz mehr, und es kam noch etwas anderes hinzu. Sie fühlte sich in diesen Augenblicken regelrecht entfremdet. Es war einfach nicht mehr ihre Kirche, die sie seit der Kindheit her kannte. Es war etwas Neues für sie, sogar etwas Fremdes.
Vera Tanner stöhnte auf.
Das Geräusch hatte auch Sixton Wingate gehört. Er hob den Blick und erkannte, wie fertig auch seine Helferin war. Nur wußte er über ihre wahren Gründe nicht Bescheid. Dennoch bat er sie, mit ihm zusammen die Kirche zu verlassen.
Vera nickte und half dem älteren Mann hoch, der noch einen letzten Blick auf die Blutlache vor dem Altar warf. »Ich hoffe nur, daß das kein Menschenblut ist«, flüsterte er.
»Bestimmt nicht.«
»Wissen Sie, Vera, was besonders schlimm ist?« fragte er und konnte das Zittern der Gestalt nicht unterdrücken.
»Nein!«
»Daß ich das Vertrauen in meinem Alter beinahe verloren habe. Ich weiß nicht, wie so etwas geschehen konnte. Ich bin völlig daneben, Kind. Was ich hier gesehen habe, ist wie ein tiefer Einbruch in mein Seelenleben, und damit komme ich nicht zurecht. Ich kann es nicht begreifen. Diese Tat hat mein bisheriges Berufsbild völlig auf den Kopf gestellt. Ich komme nicht mehr zurecht, ich bin mein Gott, mir fehlen die Worte. Und dann dieser Geruch.« Er hustete.
»Kommen Sie, Mr. Wingate, hier haben wir nichts mehr zu suchen. Sie müssen zurück in Ihr Haus, und es wird am besten sein, wenn Sie sich erst einmal ausruhen.«
»Meinen Sie?«
»Ja, schlafen…«
»Kann ich nicht.«
»Ich werde Ihnen eine Schlaftablette geben. Später überlegen wir dann gemeinsam, was wir tun können.«
»Gibt es denn noch eine Möglichkeit?«
»Eine Chance gibt es immer.«
Der Pastor lächelte müde. »Ich weiß es nicht. Ich verliere allmählich das Vertrauen.«
Sie hatten die Hintertür erreicht, und Vera zog sie auf. Der Blick glitt hinein in den trüben Märztag.
Es sah stark nach Regen aus, und sie wunderte sich, daß die Tropfen noch nicht aus den tiefliegenden Wolken fielen.
Die Bäume sahen aus wie kahle, bräunliche Gerippe, die anklagend zum Himmel zeigten.
Hinter dem Pfarrer fiel die Tür zu. Die schlimme Luft blieb zurück, und Vera atmete zunächst tief durch. Es tat ihr gut, das Blut nicht mehr riechen zu müssen.
Rechts neben ihr ging der Pastor. Sixton Wingate hielt sich an Vera fest, den Kopf hatte er gesenkt.
Er wirkte wie ein müder, alter Mann, der es aufgegeben hatte, noch an irgendein Ideal zu glauben.
Und auch Vera Tanner plagte sich mit Zweifeln herum, aber sie behielt diese für sich, weil sie ihren Chef nicht noch mehr verunsichern wollte. Am besten war es, wenn sie ihn in seine Wohnung im ersten Stock des Pfarrhauses brachte. Er mußte zur Ruhe kommen. Anschließend würden sie gemeinsam überlegen, was denn zu tun war.
Die Polizei anrufen?
Zum erstenmal kam der jungen Frau dieser Gedanke, und sie verfolgte ihn auch sofort weiter, denn sie dachte an ihren Onkel, Chief Inspector Tanner, der bei der Polizei einen ziemlich hohen Posten innehatte. Schließlich war er der Chef einer Mordkommission.
Das brachte auch nichts. Er konnte erst eingreifen, wenn jemand umgebracht worden war, und über eine mit Blut verschmierte Kirche würde er sich Zwar wundern oder auch ärgern, doch einschreiten durfte er nicht.
Vera hoffte, daß es keinen Toten gab. Das wäre noch schlimmer gewesen.
Beide hatten sich von der Hintertür entfernt und waren auf dem Weg zum Pfarrhaus. Sie mußten dabei drei Bäume passieren.
Zwei lagen bereits hinter ihnen,
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