0906 - Das Vermächtnis der Hexe
das schon vorhin hinter dem Hauseck vorgespäht hatte. Jetzt linste es aus der Bushaltestelle hervor.
Wieder zog es sich sofort zurück, als Rhett in seine Richtung schaute, doch diesmal hatte er es deutlicher erkennen können: Es war das Gesicht eines Jungen!
***
Die Welt um Zamorra verlor an Bedeutung. Er sah wohl, dass er neugierige Blicke auf sich zog, und bemerkte auch das Tuscheln der Passanten. Doch all das interessierte ihn nicht mehr.
»… sturzbetrunken…«
»… zu viel Glühwein…«
»… Drogen genommen?«
Zuerst hatte er noch versucht, mit den Menschen zu sprechen, sie um Hilfe zu bitten, aber all seine Bemühungen waren in hoffnungslosem, unverständlichem Lallen versandet. Inzwischen hatte er es aufgegeben.
Die Zeitschau hatte ihn so in ihren Bann geschlagen, dass er die Beherrschung über seinen Körper verloren hatte.
Die rechte Hand krampfte sich noch immer um das Amulett. Sie jammerte und schrie vor Schmerz. Sie fühlte sich an, als hätte man die Haut abgezogen, das rohe Fleisch in Säure gebadet und es anschließend mit Millionen glühender Nadeln malträtiert.
Und der Kopf erst! Könnte es qualvoller sein, wenn jemand seinen Schädel mit einer rostigen, stumpfen Säge ganz langsam in zwei Hälften zu teilen versuchte? Nein, niemals. Gegen das, was Zamorra durchmachte, würde sich das wie eine leichte Migräne anfühlen.
Doch all die Schmerzen waren nicht das Schlimmste!
Viel schlimmer war das Wissen, dass er mental ausblutete! Dass sich das Amulett, aus welchem Grund auch immer, gegen ihn gestellt hatte und nun an ihm zerrte, zog und riss, seine spitzen Zähne in ihn geschlagen hatte und ihn aussaugte. Er spürte, wie seine gesamte Energie, seine Kraft aus ihm herausfloss wie aus einem Eimer mit einem Loch.
Mit einem sehr, sehr großen Loch!
Warum hatte er sich ausgerechnet jetzt von Lady Patricia trennen müssen? Wäre sie hier, könnte sie Nicole Duval anrufen.
Nici! Meine Nici!
Ihr fiele sicher etwas ein.
Oder Merlin! Warum ist der nie da, wenn man ihn braucht?
Eine konfuse, peinigende Stimme im Hinterkopf flüsterte ihm zu, er habe etwas Entscheidendes vergessen und Merlin werde ihm nie wieder helfen können, doch die Stimme ertrank in einem Meer aus Schmerz.
Irgendwer muss mir helfen! Irgendwer wird mir helfen! Schließlich bin ich nicht allein hier… hier auf diesem… Wo bin ich eigentlich?
Bill Fleming, mein alter Kampfgefährte! Er wird mir helfen! Mit ihm bin ich hierher gekommen. Oder?
Nein, nicht Bill. Ich bin mit Lord Bryont Saris ap Llewellyn hier.
Das war näher dran, aber auch noch nicht ganz richtig. Aber wer war es dann?
Zamorras Gedanken zerfaserten.
Noch immer führte ihn die Zeitschau in die Vergangenheit. Die hektischen, rückwärts laufenden Bilder in seinem Bewusstsein ließen jede weitere Wahrnehmung zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Selbst der Schmerz wurde immer unwichtiger.
Schlafen! Er musste ganz dringend schlafen oder sich wenigstens für ein paar Minuten ausruhen.
Er schloss die Augen, doch die Bilder der Zeitschau blieben. Aber selbst sie drangen nicht mehr bis in seinen Verstand vor.
Da meldete sich die konfuse, peinigende Stimme wieder. Doch sie war leise, zu leise. Nicht einmal ein Flüstern!
wie weit gehst du schon zurück
sind es über zwölf stunden
mehr als achtzehn
oder zwanzig
du weißt dass dir nicht mehr viel zeit bleibt
Er wusste es. Und es war ihm egal.
Nein, es war ihm nicht egal! Im Unterbewusstsein sehnte er den Moment herbei, in dem die Zeitschau über seine Grenzen ging.
Den Moment, in dem seine Kräfte aufgebraucht waren.
Den Moment, wenn er endlich schlafen konnte.
Er öffnete die Augen wieder und sah doch nichts anderes als die Bilder der Vergangenheit.
Als die Beine unter ihm nachgaben und er auf den kalten Boden des Karnevalsmarktes schlug, mischte sich in die Grimasse auf seinem Gesicht ein kleines, hoffnungsvolles Lächeln.
***
Mit entschlossenem Schritt ging Rhett auf das Bushäuschen zu. Als er es erreicht hatte, blieb er einen Augenblick stehen.
Wie er nun erkennen konnte, war das Plakat mit der Werbung für das Konzert der Shrinking Sausages nicht aufgeklebt, sondern direkt auf die Wand gedruckt. Rhetts Überraschung darüber hielt sich in Grenzen.
Er sah um die Seitenwand des Häuschens herum.
Im linken Eck kauerte ein braunhaariger Junge, der vielleicht zwei, drei Jahre jünger als Rhett war. Er trug eine dunkelblaue Winterjacke. Er hatte ein blondes Mädchen in die Arme
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