0906 - Das Vermächtnis der Hexe
dies ein Versuch finsterer Mächte, die Erbfolge zu beenden? Wenn es ihnen bisher schon nicht gelungen war, den Erbfolger zu töten, so sperrten sie ihn nun einfach so lange weg, bis er ganz von selbst das Zeitliche segnete, ohne vorher einen Sohn gezeugt zu haben. Seine Seele hätte nach dem Tod keinen neuen Körper mehr, in dem sie weiterleben konnte. War es so? Und falls ja, wer steckte dahinter? Dieses augenlose Ding, an das er sich erinnert hatte?
Bevor er sich hoffnungslos in seinen Gedanken verheddern konnte, drückte Rhett auf den Ausstiegsknopf in der Wand. Das heißt, er drückte auf das nutzlose Plastikteil, das nur vorgab, der Ausstiegsknopf zu sein.
Nichts geschah! Die Tür blieb geschlossen.
Rhett schluckte. Er umklammerte eine der Haltestangen so fest, dass seine Knöchel knackten.
Eine wirre Theorie zu haben, war eine Sache. Sie auch noch bestätigt zu bekommen, war noch ein ganzes Stück heftiger!
Er merkte, wie ihm schwummrig wurde. Sein Atem beschleunigte und die Knie wurden weich. Mit der freien Hand stützte er sich an der vorgetäuschten Ausgangstür ab.
Kaum hatte er sie berührt, glitt sie mit einem lauten Zischen zur Seite.
Hastig zog er die Hand zurück.
Vielleicht war seine Theorie doch nur das, was er schon vermutet hatte: wirr!
Rhett machte einen Schritt nach vorne, zögerte noch einen Augenblick und stieg dann aus.
Er betrat den Bahnsteig und wusste sofort, was hier nicht in Ordnung war. Die Erkenntnis sprang ihn an wie ein hungriger Hund.
Hier (wo auch immer hier war) herrschte kein Winter!
In Lyon hatte nach den gestrigen Niederschlägen zwar auch nur wenig Schnee gelegen, aber es war doch empfindlich kalt gewesen. Die Scheiben der parkenden Autos waren zugefroren, die kahlen Äste der Bäume von einer weißlich schimmernden Reifschicht bedeckt gewesen.
Hier lag überhaupt kein Schnee und vom Dach der Bahnhofshalle hingen auch keine Eiszapfen.
Und es war warm!
Die Blumen in den Pflanzkübeln neben den Sitzbänken standen in voller Blüte.
Rhett zog die Handschuhe aus und öffnete seinen Anorak.
Wo war er hier? Wann war er hier?
Er zuckte zusammen, als er hinter sich ein bedrohliches Zischen hörte. Mit hämmerndem Herzen wirbelte er herum, doch es war nur die Zugtür, die sich wieder geschlossen hatte.
Rhett stopfte die Handschuhe in die Seitentaschen des Anoraks und wandte sich wieder der Bahnhofshalle zu.
Nun gut, die Bezeichnung Bahnhofshalle war etwa so zutreffend, als würde man Fooly einen Riesen nennen. Vielmehr handelte es sich um ein kleines, zweistöckiges Gebäude aus hellen Ziegeln. Ebenerdig sah er vier geschlossene Türen, über denen sich je ein Fenster mit grünen Läden befand. Zwischen dem zweiten und dem dritten Fenster hing eine große, runde Uhr, die wie ein überdimensioniertes Auge auf ihn herabstarrte.
Fünf Minuten vor vier.
Rhett fühlte, wie seine Knie zu zittern begannen. Als er mit Lady Patricia und Professor Zamorra den Karnevalsmarkt besucht hatte, war es gerade mal fünf Uhr gewesen. Der Umzug war um sechs, spätestens halb sieben zu Ende gewesen.
Ihm fehlten also fast zehn Stunden!
Zehn Stunden, in denen er irgendwie in diesen gruseligen Zug geraten sein musste, der ihn dann wer weiß wie weit in der Weltgeschichte herumgefahren hatte.
Unter der Uhr prangte ein rechteckiges weißes Schild, das von zwei Scheinwerfern beleuchtet wurde.
»Neufeld«, las er mit brüchiger Stimme vor.
Aha, Neufeld also. Und wo bitte schön war das?
Der Name klang deutsch, aber warum war hier dann kein Winter?
Obwohl es nicht kalt war, fröstelte ihn. Er hatte Durst und wollte heim. Stattdessen stand er verlassen auf dem Bahnhof eines Ortes, von dem er noch nie gehört hatte. Außerdem war es mitten in der Nacht!
Das einzige Licht kam von den Lampen auf dem Bahnsteig und den Masten neben den Gleisen, von der Beleuchtung des Ortsschildes und von der Schlurpi-Eis-Tafel. Nicht einmal die Sterne oder den Mond konnte er entdecken!
War der Himmel über Lyon bedeckt gewesen? Er konnte sich nicht erinnern.
Hier auf jeden Fall war der Himmel finster, finsterer, am finstersten. Als läge eine schwarze Decke über der Welt. Er hatte noch nie einen so dunklen Himmel gesehen!
Wie ein alter Bekannter klopfte ihm eine Frage auf die Schulter: Was willst du als nächstes tun?
Sein Handy! Seit einiger Zeit besaß auch er ein TI-Alpha-Mobiltelefon der Tendyke Industries-Tochterfirma Satronics. Das Gerät war ein echter Alleskönner!
Nein, das stimmte nicht. Es
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