0906 - Ein Monster aus der Märchenwelt
ein kindliches Gemüt bewahrt?«
Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet, aber sie bekam eine Antwort, auch wenn es eine Weile dauerte. »Hätte ich das nicht, würde ich mich tot fühlen.«
»Das ist ein Fortschritt.«
»Sagen Sie mir bitte, was Ihre Frage mit dem Fall an sich zu tun hat.«
»Sie müssen sich einen gewissen kindlichen Glauben bewahrt haben. Sie müssen davon überzeugt sein, daß es nicht nur diese eine Welt gibt, in der wir leben. Es gibt auch andere, nicht sichtbare. Welten, die hinter der unserigen liegen, die trotzdem bevölkert sind, und zwar von den Gestalten, die uns in Sagen, Märchen und Legenden begegnen. Erst wenn Sie so denken, können Sie begreifen, was es heißt, mit Puppen zu arbeiten.«
»Sie sprechen von anderen Dimensionen.«
»Das ist schon gut!« lobte mich die Perl.
»Nehmen Sie es bitte hin, wenn ich Ihnen erkläre, daß ich darüber einigermaßen Bescheid weiß.«
»Gut, ich nehme es hin.«
»Dann kommen Sie bitte auf den Punkt.«
Sie lächelte. Dann deutete sie über ihre Schultern hinweg nach hinten.
»Der Punkt, Sinclair, das sind die Puppen. Sie und keine anderen, denn sie allein sind wichtig.«
»Wie wichtig?«
»Für Doc Doll!«
Ich saß plötzlich starr. »Doc Doll?« flüsterte ich. »Meinen Sie damit einen Puppendoktor?«
»In der Tat.«
»Und den gibt es?«
»Ja.«
»Wo?«
Diana Perl lächelte weise und wissend. »Nicht hier, Sinclair, nicht in dieser Welt, sondern…«
»In einer anderen Dimension.«
Sie schaute mich für einen Moment sehr ernst an. »Genau«, sagte sie dann, »in einer anderen Dimension. Für fast alle Menschen nicht sichtbar. Sensible Personen sind durchaus in der Lage, diese Welt zu spüren und zu erkunden. Und die Personen wiederum, die in der anderen Welt leben, schaffen es hin und wieder, die Grenzen zu überqueren.«
»Wie dieser Doc Doll?« Ich dachte noch immer über den Namen nach, den ich in diesem Augenblick zum erstenmal hörte.
Sie nickte verhalten und schaute sich um, als könnte er jeden Moment hier erscheinen. Die Zigarette war zwischen ihren Fingern verqualmt.
Diana Perl ließ sie auf den Boden fallen und trat den Rest mit der Hake aus.
»Sie hatten Kontakt mit ihm, nehme ich an. Aber wie haben Sie das geschafft?«
»Ich wußte es.«
»Wie war das möglich?«
Die Perl hob die Schultern. »Es war nicht einfach, und man mußte schon sehr gläubig sein, aber es gibt da jemanden in meinem Bekanntenkreis, der ähnlich denkt wie ich.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht nur ähnlich, viel mehr. Er denkt viel intensiver. Dieser Jemand lebt in der Welt der Phantasie. Er schwimmt darin, er läßt seine Träume wahr werden. Er ist beinahe selbst eine Märchenfigur.«
»Mann oder Frau?«
»Keines von beiden. Ein Kind. Das Kind einer Bekannten. Ich war bei diesen Menschen eingeladen. Man hat mich durch das Haus geführt, ich sah das Zimmer des Kindes, entdeckte dort einen wunderbaren Spiegel, und man bemerkte mein Interesse. Ich fragte nach und erfuhr von der Mutter, daß dieser Spiegel aus dem letzten Jahrhundert stammte, aus einer Zeit, in der viele Märchen erfunden wurden. Das Kind, die Tochter der Familie hat den Spiegel in ihr Zimmer gestellt. Sie liebte ihn, und sie hat mir erzählt, daß die Träume, seit der Spiegel bei ihr stand, intensiver geworden sind. Sie waren wunderbar, das Kind konnte fliehen und erlebte all seine Märchen im Traum. Vor allen Dingen eine Gestalt trat immer mehr in den Vordergrund: dieser Puppendoktor.«
»Aha, und den haben Sie geholt?«
»Nein, aber ich nahm Kontakt mit ihm auf. Bei meinen weiteren Besuchen habe ich es so eingerichtet, daß die Mutter des Kindes nicht zu Hause war. Wir haben den Spiegel dann hierhergebracht, und das Mädchen war davon überzeugt, daß sich der Puppendoktor zeigen würde. Er hat es dann auch getan, doch das bekam die Kleine nicht mit, sie war mittlerweile eingeschlafen. Ich aber erlebte ihn, und ich stellte fest, daß er die toten Puppen zu lebenden Wesen hervorheben konnte, denn er verfügte über magische Kräfte. Er war wunderbar. Er stieg aus dem Spiegel, ging zu ihnen, streichelte sie, und so bekamen wir die Puppen. Zuerst nur vier, aber es werden bestimmt noch mehr werden.«
Sie geriet ins Schwärmen, sagte aber nichts, sondern lächelte vor sich hin.
»Den Spiegel haben Sie dann wieder zurückgebracht.«
Die Frau schrak zusammen, als hätte ich sie brutal geweckt. »Ja, das habe ich, und meine kleine Begleiterin hat davon nichts
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