0906 - Ein Monster aus der Märchenwelt
funkelten in den Falten, die Nase war dick, sogar knollig, und in der rechten Hand hielt die Gestalt eine Arzttasche mit einem Bügel aus Horn.
Locker schwenkte sie die Tasche vor und zurück, als wollte sie damit andeuten, daß sie bereit war, aus dem Spiegel zu steigen. Er war jemand, der alles beherrschte, der tun und lassen konnte, was er wollte. Man würde ihm gehorchen, er war das lebende Produkt einer schriftstellerischen Phantasie, denn Grace Wonderby erinnerte sich daran, daß sie ihn schon gesehen hatte, und zwar im Buch ihrer Tochter.
Das kam ihr jetzt wieder zu Bewußtsein.
Die Frau konnte nicht sagen, wie lange sie vor dem Spiegel gestanden hatte. Da wurden Sekunden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Man hatte ihr die Zeit geraubt. Es war alles weg, sie war versunken in einer tiefen Trance und wußte nicht mal, ob sie geatmet hatte oder nicht.
Erst als sie ein Geräusch hörte, erwachte sie aus ihrer Starre. Alice hatte es abgegeben, ein Hüsteln oder Schneuzen, Grace drehte ihren Kopf.
»Was geht hier vor, Alice?« Die eigene Stimme kam ihr fremd vor.
»Ich weiß es nicht, Mummy!«
»Aber du siehst ihn auch?«
»Klar, und ich weiß auch, daß er lebt.«
Grace nickte, ohne es richtig zu bemerken. »Er lebt, es gibt ihn. Er ist im Spiegel und…«
»Er kann ihn auch verlassen.«
»Meinst du?«
»Ja…«
»Dann stimmt es?«
»Ja, Mummy!« Die Stimme der Zwölfjährigen klang drängend. »Ja, er kann ihn verlassen. Ich habe es selbst erlebt. Er hat doch vor mir gestanden, einfach so. Er hat die Puppen verletzt und zerschnitten. Er ist so grausam.«
Grace schüttelte den Kopf. Fassen konnte sie es nicht. Es war auch kein Spiel. Dieser Puppendoktor stellte trotz allem eine Gefahr dar. Zudem gab es keinen Grund, der Tochter nicht zu glauben. Sie steckte zwar voller Geschichten, ihre Phantasie sprudelte über, diesmal jedoch hatte sie sich nichts zusammengesponnen.
»Er betritt bestimmt wieder das Zimmer, Mum.«
»Das glaube ich auch.«
»Ich will nicht mehr hierbleiben, Mum. Wir müssen weg.«
»Sicher, Kind, sicher!« flüsterte Grace. Sie spürte die kleinere Hand ihrer Tochter in der ihren und griff fest zu. Noch standen beide vor dem Spiegel, als wollten sie sich ein letztesmal davon überzeugen, daß sie sich nicht geirrt hatten. Dann zogen sie sich zurück. Sie gingen sehr langsam auf die Tür zu, Schritt für Schritt, vergleichbar mit zwei kleinen Robotern.
Dabei hielten sie die Köpfe so gedreht, daß sie stets die Spiegelfläche anschauen konnten, in der sich der Puppendoktor abzeichnete, sich aber nicht von der Stelle rührte, denn er traf keinerlei Anstalten, die Verfolgung aufzunehmen. Erst nahe der Tür atmeten Mutter und Tochter auf, da wurden sie dann schnell, rissen die Tür auf und hetzten in den Flur.
Der Schlüssel steckte außen. Grace dachte daran, die Tür abzuschließen, danach fühlte sie sich etwas besser, auch wenn ihre Tochter den Kopf schüttelte.
»Was hast du?«
»Mum, es hat keinen Sinn, wenn du abschließt. Er wird es immer wieder schaffen.«
»Wie meinst du?«
»Es wird für ihn keine Hindernisse geben. Er kommt überall durch.«
»Ach ja?«
»Doch, du kannst es mir glauben.« Alice stöhnte auf. »Ich kann es ja auch nicht fassen. Es ist mir unbegreiflich. Aber er ist da, und trotzdem ist er ein Gespenst. Eines aus dem Spiegel, eines, das woanders wohnt.«
»Wie meinst du das denn?«
»Na ja, in einer anderen Welt eben. In die wir nicht hineinschauen können.« Alice blickte ihre Mutter ernst an, um ihr zu beweisen, wie ernst sie es meinte. Dann sagte sie: »Ich will nicht mehr hier oben bleiben. Laß uns nach unten gehen.«
»Wie du willst.« Grace Wonderby warf der Tür des Kinderzimmers einen letzten Blick zu, aber ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Niemand öffnete die Tür von innen, niemand verließ das Zimmer, erst recht kein Puppendoktor.
Dann gingen sie nach unten. Beide schwiegen, was besonders bei Grace auffällig war, denn sie, die lebhafte Person, konnte kaum ihren Mund halten. Sie mußte eigentlich immer reden und sprach auch mit sich selbst, wenn niemand in der Nähe war, der ihr zuhörte.
Ohne es richtig gewollt zu haben, hatte sie der Weg in die Küche geführt.
Dort setzte sich Alice an den Tisch und starrte ins Leere, während ihre Mutter keine Ruhe fand, auf- und abging und sich schließlich einen Kaffee kochte.
»Wir müssen etwas tun, Alice!« sagte sie.
»Was denn, Mummy?«
»Ich weiß es nicht, aber irgend
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