0906 - Ein Monster aus der Märchenwelt
nicht gesehen, aber gespürt, daß etwas mit dem Spiegel passiert sein mußte. Er fühle sich so leer, es gab keinen inneren Halt mehr, und er konnte nicht anders. Wie einem Zwang folgend mußte er einen Blick in das Zimmer des Mädchens werfen, um sich überzeugen zu können.
Er hatte sich nicht getäuscht.
Es gab den Spiegel zwar noch, aber er war zerstört. Glasstücke lagen vor dem leeren Gestell und reflektierten das Restlicht. Er sah sich für einen Moment darin und kam sich dabei vor, als wäre seine Gestalt zerschnitten worden.
Haß durchfuhr ihn wie ein heißer Strom. Wenn die anderen dachten, sie hätten gewonnen, so würden sie sich geirrt haben. So leicht war er nicht aus dem Geschäft zu zerren. Er würde zurückschlagen und ein Blutbad hinterlassen.
Ein junger Mensch hatte ihn geholt. Er hatte den Weg in die Welt der Druiden gefunden, aber dieser Mensch ahnte nicht, was Guywanos Reich bereithielt.
Aibon war die Welt der Märchen und Legenden. Auf der einen Seite lebten die wunderbaren und herrlichen Geschöpfe, aber auf der anderen, die von Guywano regiert wurde, gab es Gestalten wie ihn, und der Spiegel, verbunden mit der Sensibilität einer gewissen Alice Wonderby, war der Weg gewesen.
Er knurrte leise, als er das Zimmer verließ. Der Weg bis zur Treppe war nicht weiter.
Geduckt blieb er an der oberen Stufe stehen und schaute nach unten in den Flur.
Dort war nichts zu sehen. Keiner hielt sich da auf. Die Stimmen drangen auch nicht mehr aus der Küche, sondern aus einem anderen Raum, wahrscheinlich dem großen Zimmer mit dem breiten Fenster, durch das man in den Garten schauen konnte.
Sollten sie.
Er würde auch dorthin kommen.
Und er würde einen Gruß aus Aibon mitbringen. Er, das Monster aus der Märchenwelt…
***
Ich hatte meinen Freund Suko aus den Augen verloren und suchte an anderen Stellen nach dieser bösartigen Mordgestalt. Ich hielt mich noch in relativer Nähe des Hauses auf, derweil Suko den Hintergrund des Gartens durchsuchte. Leere, bräunliche Beete, auch Rasenflächen, ein kleiner Brunnen, der aus Natursteinen gebaut worden war, das alles nahm ich am Rande wahr.
Ein dunkler Gegenstand, der nur einige Schritte von mir entfernt lag, fiel mir besonders auf. Zunächst glaubte ich an eine Täuschung, aber es stimmte tatsächlich, wie ich bald bemerkte.
Da lag ein Hut! Ein eingedrückter Zylinder. Und den hatte der Puppendoktor getragen, wie ich aus den Beschreibungen wußte. In meinem Kopf klingelte natürlich die Alarmglocke. Ich blieb in unmittelbarer Nähe des Hutes stehen. Auf dem Rücken spürte ich das berühmte Kribbeln.
Nicht weit von mir entfernt befand sich die breite Scheibe des Wohnzimmerfensters, aber von dem Träger des Hutes entdeckte ich keine Spur.
Er hielt sich versteckt.
Ohne seinen Hut?
Da stimmte etwas nicht. Entweder hatte er ihn verloren oder freiwillig abgesetzt. An die letzte Möglichkeit wollte ich nicht glauben. Warum hätte er das tun sollen?
Da mußte etwas passiert sein.
Mein Blick glitt an der Hauswand hoch.
Dort war nichts zu erkennen. Dafür nahm ich rechts von mir und in der Tiefe des Gartens eine Bewegung wahr. Dort hielt sich mein Freund Suko auf, der dabei war, zu mir zu kommen. Er winkte mit einer Hand.
An der Geste erkannte ich, daß er nichts gefunden hatte.
Ich wartete auf ihn. Bevor er noch etwas sagte, streckte ich den Arm aus und wies auf den Hut. »Er hat ihm gehört.«
Suko nickte nur. »Hast du eine Erklärung?«
»Noch nicht.«
»Dann war er wohl draußen.«
»Davon können wir ausgehen.«
Suko rieb sein Kinn. »Können wir auch davon ausgehen, John, daß er möglicherweise eine falsche Spur gelegt hat?«
»Was meinst du damit?«
»Daß er schon im Haus ist?«
Ich schaute ihn für kurze Zeit starr an. Dann saugte ich durch die Nase geräuschvoll die Luft ein. »Los, komm mit…«
***
Grace Wonderby, Sheila Conolly und Alice hatten sich im Wohnzimmer versammelt. Keine von ihnen wußte so recht, was sie sagen sollte. Das Schweigen lastete zwischen ihnen, und Grace war in der Nähe ihrer Tochter geblieben, als wollte sie all das nachholen, was sie in den Jahren zuvor durch eigene Aktivitäten versäumt hatte.
»Sie werden ihn finden«, sagte Sheila schließlich. »Ich bin davon überzeugt, daß sie es schaffen. John Sinclair und Suko sind zwei Experten. Man nennt sie nicht grundlos Geisterjäger, und sie erleben den Horror tagtäglich. Sie wachsen praktisch da hinein und…« Sheila wußte nicht mehr so recht,
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