0909 - Das Opfer
ausdrücken darf, aber sie hat trotzdem ein Recht.« Der Mann schaute Jane ins Gesicht. »Oder sehen Sie das anders?«
»Nein, Mr. Kendrake.«
»Dann sind wir uns ja einig«, sagte er schnaufend.
Jane Collins konnte ihn verstehen. Er war ein besorgter Vater, dem das schmale Glück seiner Tochter über alles ging. Doch dieser Mann war zugleich ein Mensch mit zwei Gesichtern. Wenn es stimmte, daß er mit Waffen handelte, dann mußte er auch darüber nachdenken, welches Leid die Waffen über andere Menschen brachten. Daß sie töteten, verletzten und auch Menschen zu lebenslangen Krüppeln schossen. Aus diesem Grunde relativierte Jane ihre Meinung über den Mann.
Ihre Gedanken allerdings sprach sie nicht aus, weil sie nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen wollte, aber sie beschloß, ihm dies bei einer anderen Gelegenheit zu sagen.
Kendrake hatte die Detektivin beobachtet. »Über was denken Sie so intensiv nach?«
»Das ist ganz einfach. Ich denke darüber nach, was geschehen würde, wenn ich jetzt ablehne.«
»Sie wollen also nicht?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Der Mann räusperte sich. »Sie haben mir eine Frage gestellt, Sie werden auch eine Antwort bekommen. Wenn Sie nicht wollen, werde ich Raki sagen, daß er anhalten soll. Hinter uns fährt Krishan mit Ihrem Golf. Sie werden umsteigen können, und die Sache ist vergessen. Sollten Sie mir wegen dieser Lappalie Schwierigkeiten bereiten, wird es niemanden geben, der Ihre Aussagen bestätigt. Dann stehen Sie allein auf weiter Flur, und ich glaube nicht, daß Sie gewinnen.«
»Da stimme ich zu.«
»Sehr schön. Wie also haben Sie sich entschieden, Miß Collins? Teilen Sie es mir jetzt und hier mit.«
Jane schaute gegen die Trennscheibe. Das Glas war ebenfalls dunkel eingefärbt worden. Ihr Gesicht zeichnete sich dort ab, und es sah so aus, als würde es zwischen düsteren Wolken schweben. »Ich werde es Ihnen sofort sagen, Mr. Kendrake. Ich kenne Ihre Tochter persönlich nicht, aber Ihre Worte haben sie mir nahegebracht. Sollte alles so sein, wie Sie es sich vorgestellt haben, werde ich die letzte sein, die nicht versuchen würde, sie zu beschützen.«
»Also nehmen Sie an?«
»Ja, Mr. Kendrake, ich nehme an!«
Für einen Moment saß der Mann unbeweglich. Dann zuckte es in seinem Gesicht. Jane hatte den Eindruck, als wäre aus Eisen allmählich Wachs geworden. Dieser harte Geschäftsmann und Waffenhändler zeigte Gefühle, und als er Jane Collins ansprach, da holte er zuvor mehrmals Luft, und seine Stimme klang trotzdem rauh und gepreßt.
»Ich danke Ihnen, Miß Collins. Ja, ich danke Ihnen, und ich werde es Ihnen nicht vergessen.« Er streckte der Detektivin seine rechte Hand entgegen.
Jane Collins schlug ein!
***
Die gelähmte Romana Kendrake hatte ihren Rollstuhl nicht vom Fleck gefahren, und auch sie selbst hatte sich nicht mehr bewegt, seit sie das Messer aus der Scheide gezogen hatte. Die Klinge lag noch immer auf ihrem rechten Oberschenkel. Ihr Gesicht spiegelte sich darin.
Er konnte sich also auch tagsüber bewegen, denn er war nicht nur ein Geschöpf der Nacht! Er war eben ein besonderer Vampir, und Romana schüttelte den Kopf, als sie daran dachte, daß sie ihn mit einem Messer erwartete.
Eine schlichtweg lächerliche Waffe, mit der sie kaum oder gar nichts ausrichten würde.
So wartete sie auf ihn!
Er ließ sich Zeit. Romana merkte, daß ihre Augen anfingen zu brennen. Sie hatte einfach zu lange hinaus in den Nebel geschaut. Verdichtet hatten sich die Dunstwolken nicht, aber sie erkannte die Bewegung darin.
Er schlich weiter.
Romanas Herz schlug wieder schneller. Noch war nicht genau erkennbar, in welche Richtung er ging, weil der Dunst zuviel verzerrte. Sie konnte sich aber vorstellen, daß der Weg sie auf das Haus zuführte, um ihm einen erneuten Besuch abzustatten.
Zu hören war er nicht. Er war nie zu hören. Vielleicht konnte er auch schweben. Schließlich war nicht bewiesen, daß Wesen der Nacht über keine übermenschlichen Kräfte verfügten. Und er war auch lautlos wie ein Schatten in ihr Zimmer hineingehuscht. Sie hatte ihn nicht gehört, nur plötzlich gesehen.
Wie auch jetzt!
Plötzlich stand er vor der Scheibe!
Die Frau erschrak bis ins Mark, denn sie hatte die düstere Gestalt nicht näherkommen sehen, aber es gab keinen Zweifel, daß der Unheimliche das Haus erreicht hatte.
Zunächst blieb er stehen.
Romana sah weder Arme noch Beine. Ausschließlich die Gestalt malte sich hinter dem Glas ab, und sie wirkte
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