0909 - Das Opfer
endlich!«
Romana sah den Blick seiner Augen. Waren es überhaupt normale Augen? Doch - ja, sie erkannte darin so etwas wie ein Gefühl. Zumindest einen gnadenlosen Willen.
Mit der rechten Hand umklammerte sie den Griff. Obwohl sie ihn ihrer Meinung nach sehr fest hielt, kam es ihr vor, als könnte ihr die Waffe jeden Augenblick aus den Fingern rutschen. Es war nicht nur eine Sache der Tat, auch des Kopfes. Dort mußte sie den Befehl bekommen, es endlich machen zu können.
Überwindung!
»Ich warte nicht mehr lange…«
Romana nickte. Gut, wenn er es nicht anders will. Er würde sie testen wollen, und sie war jetzt froh, daß sie im Gegensatz zu ihrem Unterkörper über genügend Kraft in den Armen verfügte. Auch eine Folge des Trainings. Wer im Rollstuhl saß, durfte auf Fitneßübungen nicht verzichten. Sie konnte trainieren, sie konnte Hanteln heben, ihre Muskeln stärken. Sie konnte…
»Los jetzt!«
Plötzlich wurde Romana von einem Automatismus erfaßt, den sie selbst nicht steuern konnte. Sie tat es, sie drückte das Messer vor, nein, sie rammte es nach vorn, und die Klinge durchdrang den Mantelstoff in Brusthöhe. Sie fuhr auch noch tiefer hinein, durch Haut, durch Fleisch, zwischen Knochen hindurch, und Romana glaubte, es knacken und knirschen zu hören.
Sie selbst schaffte es nicht, auf ihre Hand zu schauen. Die Augen waren auf das Gesicht des Bluttrinkers gerichtet, wo sie herausfinden wollte, ob er in der Lage war, etwas zu fühlen.
Das war nicht der Fall.
Keine Gefühle, keine Angst, keine Folgen irgendwelcher Schmerzen waren auf seinem Gesicht zu sehen. Er nahm den Stoß hin und auch das Eindringen der Klinge in seinen Körper.
Romanas Finger zuckten. Sie ließ den Griff der Waffe los, und die Klinge blieb in der Brust des anderen stecken. Sie ragte wie eine Botschaft aus dem Körper hervor, als wollte sie demonstrieren, daß er so nicht zu töten war.
Der Blutsauger spürte nichts. Keine Schmerzen, keine Pein, auch kein Leid. Es quoll kein Tropfen Blut aus der Wunde, nur das Loch im Stoff war vorhanden, und er kniete auch weiterhin auf dem Boden, ohne sich zu rühren.
Obwohl sie es getan hatte, kam Romana damit nicht mehr zurecht. Am liebsten wäre sie zusammengebrochen und hätte sich auf den Boden gelegt. Raus aus dem Rollstuhl, hinein in ein anderes Leben und…
Die Bewegung des Blutsaugers lenkte sie ab, denn sie schaute zu, wie er einen Arm hob.
Es war der rechte.
Seine Hand war dabei zu einer Klaue verformt, und diese Klaue näherte sich dem Messer. Er begleitete seine Bewegung durch ein seichtes Lächeln, dann umfaßte er den Griff, nahm sich einen Moment Zeit - und zerrte die Waffe mit einem Ruck hervor.
Romana konnte nicht anders. Sie mußte dieser Bewegung einfach mit den Blicken folgen. Natürlich starrte sie auf die Klinge, und sie sah, daß sich daran nichts verändert hatte. Dort klebte kein Tropfen Blut, keine Schlieren irgendeiner dicken Flüssigkeit schimmerten dort, sie war völlig blank.
»Dein Messer«, flüsterte er.
Die Frau rührte sich nicht.
»He, nimm es!«
Erst jetzt zuckte Romana zusammen, als wäre sie aus einem sehr tiefen Schlaf erwacht. Sie starrte die Klinge an wie einen fremden Gegenstand. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Es gehört dir…«
»Ich will es nicht!«
»Nimm es, Romana, es ist wichtig, sogar sehr wichtig für dich. Wer weiß, vielleicht kannst du es brauchen.«
Die junge Frau starrte den Sprecher an und schaute trotzdem ins Leere. Ihre Gedanken wollten dieser schon absurden Realität einfach nicht folgen. Das war schon der reine Irrsinn, das war einfach nicht mehr haltbar. Sie fühlte sich selbst an der Grenze stehend zwischen Normalität und Irrsinn, und sie kam mit den Gegebenheiten nicht mehr zurecht. Okay, die Menschen lebten in einer verrückten Zeit, das stimmte schon, aber so etwas hatte sie noch nie erlebt. Da wurde die Absurdität zu etwas Normalem, und das mußte sie erst einmal fassen. Es war ihr unmöglich, so etwas konnte es nicht geben. Die Welt war auf den Kopf gestellt worden, und sie befand sich im Zentrum.
Aus seiner Wunde war kein Blut gequollen. Sie sah nichts, überhaupt nichts, abgesehen von einem Loch in der Kleidung, wobei sie das Loch im Körper ebenfalls nicht entdeckte.
Es war nicht zu fassen.
Der Blutsauger hob die Hände und strich über seine Brust hinweg. Er bohrte sogar einen Finger in das Wundenloch, und Romana mußte sich bei diesem Anblick einfach schütteln. Sie war so erstarrt, daß sie
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