0909 - Das Opfer
nicht mal bemerkte, wie sie atmete, bei ihr geschah alles automatisch, wie von einer Überlebensmaschine gelenkt.
Der Finger des Vampirs war lang und bleich. Er drang sogar tief in das Wundloch ein, wurde wieder hervorgezogen und der jungen Frau präsentiert.
Nichts klebte an ihm.
Sie sah keinen Tropfen, keine Schleimspuren, einfach gar nichts. Der Finger war trocken.
»Nun?« fragte er flüsternd und erhob sich wieder. »Hast du alles genau gesehen?«
Sie konnte nur nicken.
»Dann muß dir klar sein, welche Macht ich habe. Nicht nur über mich, auch über andere. Ist dir das klar?«
Wieder nickte sie.
»Wunderbar. Es freut mich. So etwas hast du noch nie erlebt, Romana. Ich weiß es, denn ich habe dich beobachtet. Ich habe erlebt, wie du leidest, wie du unter deiner Krankheit fast zusammengebrochen wärst. Es ist auch schrecklich, als Lebende so dahinzuvegetieren, und selbst ich habe Mitleid mit dir bekommen. Ich will dich nicht leiden sehen. Ich kann es nicht ertragen. Du bist ein Mensch, aber du stehst außerhalb der menschlichen Gemeinschaft, weil dich diese Krankheit so brutal gezeichnet hat. Du kannst nicht mehr leben wie ein Mensch, obwohl du es dir gewünscht hast. Ist es nicht so?«
Die Frau wunderte sich, daß sie nickte. Sie hatte es nicht tun wollen, aber die Worte dieser Gestalt hatten genau ins Schwarze getroffen, und sie war von ihnen fasziniert gewesen.
»Gut, Romana. Ich finde es gut, daß du mir zugestimmt hast. Du hast gelitten, das weiß ich. Du würdest viel oder alles darum geben, wenn du wieder laufen könntest.«
»Ja…«, hauchte sie.
»Danke, daß du es mir bestätigt hast.« Er faßte ihre Hände an, und sie spürte wieder seine widerlich kalte Haut, die sie ja schon von den Nächten her kannte.
Die Haut eines Toten, der trotzdem lebte.
Aber sie schüttelte sich nicht, sie nahm es hin, auch das Streicheln der kalten Fingerkuppen auf ihren Handrücken, und sie sah, wie sich das Gesicht des Vampirs dem ihren immer mehr näherte. Er hatte wieder seinen Mund geöffnet und die Oberlippe zurückgezogen, damit Romana sein Markenzeichen genau erkennen konnte.
Er starrte sie an.
Biß er auch zu?
Nein, er ließ sich Zeit, er tat nichts, aber er zeigte ihr seine graue Zunge, mit derer seine Lippen umleckte, als Zeichen einer gewissen Vorfreude.
»Du bist krank, sehr krank«, sagte er dicht vor ihrem Gesicht. »Das Leben hat dich gezeichnet, das weiß ich, das weißt du.« Obwohl kein Atem aus seinem Mund strömte, glaubte sie trotzdem, daß sie von einem Hauch gestreift wurde. Es war nur der faulige Geruch, der sich im Körper des Blutsaugers gebildet hatte und nun in die Höhe gestiegen war, um durch die Mundöffnung zu strömen.
»Was willst du?« Romana mühte sich ab, die Worte über die Lippen zu bringen.
»Dir helfen.«
»Bitte?«
Er grinste breit. »Ich bin gekommen, um dir zu helfen, und auch du wirst mir helfen.«
»Mir kann niemand helfen«, erklärte sie jammernd. »Es ist alles versucht worden. Mein Vater hat mich zu den besten Ärzten geschickt, es war alles vergebens. Mir kann niemand helfen…«
»Ärzte«, sagte er leise lachend und winkte dabei. »Was sind denn schon Ärzte…?«
»Spezialisten und…«
»Nein, es sind Idioten, glaube es mir. Sie taugen nichts. Du kannst sie vergessen. Ich weiß genau, was mit dir geschehen ist, ich weiß es, Romana, denn ich habe dich beobachtet. Du bist etwas Besonderes, und ich habe mich für dich eingesetzt…«
»Bitte, ich kann es nicht hören…«
Sie hörte auf zu sprechen, weil er mit seinen kalten Totenhänden ihre Wangen streichelte. »Aber nicht doch, meine Liebe. Du darfst dich nicht aufregen. Du mußt ruhig bleiben, nur ruhig. So kommen wir gemeinsam zu einem Ergebnis.«
»Nicht für mich.«
»Doch, auch für dich, gerade für dich. Du wirst mir jetzt zuhören, denn ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich spüre, daß der Tag heller wird, noch einmal heller. Bald wird die Dämmerung hereinbrechen, der die Nacht folgt. Dann ist meine Zeit gekommen.«
»Was willst du für mich tun?« flüsterte sie.
»Ich werde dich retten!« hauchte er. »Und ich werde das erfolgreich beenden, was die Ärzte nicht geschafft haben. Ich werde dir deine Beweglichkeit zurückgeben. Ich werde dafür sorgen, daß du den Rollstuhl verlassen und wieder normal gehen kannst, und es wird wunderbar für dich sein. Ein völlig neues Eintauchen in die Welt, die du nur aus deinen Träumen kennst.«
Romana Kendrake hatte zugehört. Jedes,
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