0909 - Drachentod
gestand es sich nicht gerne ein, aber er war eifersüchtig. Chin-Li war nur ein einfacher Mensch. Sicher, ihr war schon als Kind prophezeit worden, sie werde einst als Kriegerin das Erbe Tin Haus verteidigen. Aber besaß sie magisches Potenzial? War sie eine begabte Zauberin?
Trotzdem war Chin-Li von Anfang an Meister Shius Liebling gewesen. Das Drachen-Oberhaupt hatte sie nicht gerade verzärtelt und sie dem härtesten Drill unterzogen, den man sich vorstellen konnte. Aber selbst dahinter steckte letztlich väterliche Sorge. Schließlich wollte der alte Mann, dass sein Schützling die Schlachten, in die er sie schickte, möglichst unbeschadet überlebte.
Und Lam? Der Magier konnte sich bemühen, wie er wollte. Er war der brillanteste Zauberschüler, den das Kloster seit Generationen hervorgebracht hatte, und wurde zu einem besseren Geldeintreiber degradiert. Er konnte mehr als doppelt so viel wie seine Mitbrüder einnehmen, es wurde als selbstverständlich betrachtet.
Chin-Li dagegen hatten die greisen Führer des Ordens sogar ihre Abkehr von der Bruderschaft verziehen. Unter dem verderblichen Einfluss dieses französischen Parapsychologen hatte die Kriegerin den Orden verraten, doch Meister Shiu schien sie nur noch mehr zu lieben.
Das war der Grund, warum Lam sie aus ganzem Herzen hasste. Und deshalb wollte er, dass sie starb, nicht irgendwo in Singapur, sondern vor seinen Augen.
In Hongkong.
***
Sie sahen sich die Aufzeichnung auf Nicoles Laptop an. Zamorra traute den Neun Drachen nicht. Es war nicht auszuschließen, dass sie die Gelegenheiten nutzen würden, um Spionage-Software oder einen Virus in ihr Netzwerk einzuschleusen.
Zwar waren die Firewall und die Virenscanner, mit denen Olaf Hawk die Computeranlage des Châteaus versehen hatte, fast unüberwindbar, aber Zamorra ging lieber auf Nummer Sicher. Schließlich kontrollierte der Orden einige der modernsten Software-Unternehmen des Fernen Ostens. Die dort beschäftigen Wissenschaftler sahen es sicher als eine sportliche Herausforderung an, ein so perfekt geschütztes System zu knacken.
Nicole legte die CD ein und startete die Aufzeichnung. Der Film setzte etwa eine Minute vor dem Überfall ein. Die Kamera war irgendwo hinter dem Tresen unter der Decke angebracht und so platziert, dass sie sowohl die Tür als auch die meisten Tische des winzigen Restaurants erfasste. Nur wenige Tische waren besetzt, die Gäste waren scheinbar ausschließlich Chinesen.
»Der Laden scheint nicht sehr beliebt zu sein«, sagte Nicole.
»Schlechtes Essen, mieser Service«, erwiderte Lee ungerührt. »Und es gibt böse Gerüchte über den Verbleib von Ratten und Hunden. Da geht niemand ein zweites Mal hin.«
Zamorra verstand. Offenbar diente der Laden nur als Tarnung für weitaus weniger legale Geschäfte der Neun Drachen. Zu viele Gäste würden da nur stören, also tat man alles, um sie zu vertreiben. Die asiatischen Besucher waren vermutlich alle Teil der Familie .
Eine Minute geschah nichts, außer dass die wenigen Gäste mit großem Appetit ihr Essen hinunterschlangen. Offenbar konnten die Betreiber durchaus kochen, wenn sie nur wollten. Dann ging die Tür auf und eine attraktive junge Frau kam herein. Sie war ebenfalls Asiatin, doch die misstrauischen Blicke der anderen ließen vermuten, dass sie kein bekanntes Gesicht in dem Laden war.
Zamorra entging nicht die Anspannung, mit der Lee das stumme Geschehen auf dem Bildschirm verfolgte. Offenbar ließ das, was jetzt kam, selbst einen abgebrühten Mobster nicht kalt.
Die durchtrainiert wirkende Frau war vielleicht Mitte 20 und trug ein elegant geschnittenes Kostüm. Das lange Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Etwas an ihr erinnerte Zamorra an Chin-Li. Vielleicht war es die kühle Professionalität, mit der sie den Raum und die Anwesenden regelrecht zu scannen schien.
Ein Kellner baute sich vor ihr auf und redete auf sie ein. Vermutlich versuchte er ihr klar zu machen, dass die Küche bereits geschlossen hatte. Doch die Frau ignorierte ihn einfach und ging weiter nach hinten durch. Einer der Gäste sprang auf und wollte sich ihr in den Weg stellen.
Und dann brach die Hölle los.
Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sich die Frau in eine reißende Bestie. Ihr schönes Gesicht verformte sich zu einer Raubtierfratze. Die Kleidung platzte an den Nähten auf, aus denen dichtes Fell hervorquoll.
»Ein Wertiger«, keuchte Nicole.
Fast alle Kulturen kannten Mythen über Mischwesen zwischen
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