0909 - Drachentod
hat sie das Restaurant einfach nur ausgesucht, weil es chinesisch ist. Jedes Raubtier bevorzugt für die Jagd bekanntes Territorium. Und das ganze Viertel ist stark asiatisch geprägt.«
Zamorra fand diese Theorie nicht gerade überzeugend, aber eine bessere hatte er zurzeit auch nicht zur Hand. Wenn sie mehr wissen wollten, mussten sie sich vor Ort umsehen.
»Also gut«, sagte er. »Fahren wir nach Paris.«
Lee gönnte sich ein schmales Lächeln. »Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden.«
***
Chin-Lis erster Impuls war es gewesen, sofort loszustürmen, den nächsten Flug nach Hongkong zu nehmen und zu sehen, ob es ihren Eltern gut ging. Doch sofort sprang in ihrem Gehirn ein Programm an, das ihre jahrelange Ausbildung zur Profikillerin dort implementiert hatte und das jetzt vor allzu übereilten Aktionen warnte. Wenn sie jetzt durchdrehte, tat sie genau das, was die andere Seite wollte. Wurde unvorsichtig. Gab die Deckung auf und ging vermutlich in die nächstbeste Falle. Das würde niemandem nutzen. Schon gar nicht ihren Eltern.
Wenn sie noch lebten…
Also tat sie das, was in dieser Situation, in der jede Faser in ihr nach Aktion schrie, das einzig Richtige war.
Nichts.
Natürlich würde sie nach Hongkong fliegen, aber zunächst musste sie sich mental auf die Reise vorbereiten. Wer immer hinter dem Anschlag steckte, hatte sie an dem einzigen Punkt getroffen, an dem sie wirklich verletzlich war. Wenn sie nicht ganz in sich selbst ruhte, würde sie den Kampf verlieren.
Für einen Moment überlegte Chin-Li, Professor Zamorra und Nicole Duval anzurufen, entschied sich dann aber dagegen. Nach all den Jahren fiel es ihr immer noch schwer, um Hilfe zu bitten. Außerdem war diese Angelegenheit sehr privat. Selbst den wenigen Menschen, denen sie wirklich vertraute, und Zamorra und Nicole gehörten zweifellos dazu, hatte sie nichts von ihren Eltern erzählt.
Und das sollte auch so bleiben. Nachdem sie fast ihr ganzes Leben einer vermeintlich größeren Sache geopfert hatte, war diese Beziehung das einzige, das wirklich ihr gehörte. Eine kleine Entschädigung für die Kindheit, die sie nie gehabt hatte.
Es kostete die chinesische Kriegerin einige Überwindung, doch sie zwang sich, noch gewissenhafter als sonst sicherzustellen, dass ihr niemand auf dem Heimweg folgte. Sie bewohnte ein kleines Apartment in einem der identitätslosen Hochhäuser am Stadtrand. Die durch den staatlichen Wohnungsbau geförderte Wohnung war vergleichsweise billig, gut mit der U-Bahn zu erreichen und vor allem ideal, um in der Masse zu verschwinden.
Dennoch ging Chin-Li kein Risiko ein. Jeden Tag legte sie ein paar Extragänge ein, schlug Haken und änderte ihre Routinen, um etwaige Verfolger aufspüren zu können.
Dennoch hatte sie jemand ausfindig gemacht. Und vermutlich wissen sie auch längst, wo ich wohne. Doch wer steckte dahinter? Chin-Li konnte sich nicht vorstellen, dass Meister Shiu etwas mit der Sache zu tun hatte. Doch vielleicht gab es Kreise innerhalb der Bruderschaft, die ihr nicht so wohl gesonnen waren. Oder es war sonst jemand, der noch eine Rechnung mit ihr offen hatte. Schließlich hatte sie sich in ihrem kurzen Leben nicht gerade wenige Feinde gemacht.
Umso gründlicher widmete sich die Kriegerin der Gegenaufklärung, so dass sich der eigentlich recht kurze Weg um knappe zwei Stunden verlängerte. Als sie endlich in ihrer Wohnung ankam, konnte sie sich dafür sicher sein, dass ihr niemand folgte. Auch, in der Wohnung wartete niemand auf sie. Die andere Seite hatte ihr eine Botschaft hinterlassen und wartete jetzt auf ihre Reaktion.
Das Apartment war fast leer. Chin-Li legte wenig Wert auf irdischen Luxus. In einer Ecke befand sich eine harte Futon-Matratze mit einer dünnen Decke. Daneben gab es einen Arbeitsplatz mit Computer und Internetanschluss. Chin-Li war traditionsbewusst, aber nicht rückschrittlich.
Der wichtigste Teil des Wohnraums war ein kleiner, mit Opfergaben geschmückter Hausaltar, der Tin Hau gewidmet war. Chin-Lis Verehrung für die chinesische Meeresgöttin hatte auch nach ihrer Abkehr von den Neun Drachen nie nachgelassen. Tin Hau war schließlich nicht verantwortlich für die unzähligen Verbrechen, die in ihrem Namen begangen worden waren.
Auch von mir.
Schnell verdrängte die Kriegerin den Gedanken. Er war zu schmerzhaft, um sich ihm hier und jetzt zu stellen. Sie entledigte sich ihrer Kleidung und stellte sich unter die Dusche. Nach der neuerlichen Begegnung mit dem Bösen
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