0909 - Drachentod
fühlte sie sich beschmutzt, und sie wollte sich innerlich und äußerlich reinigen, bevor sie Tin Hau gegenübertrat.
Sorgfältig trocknete sie sich ab. Dann begab sie sich, nackt wie sie war, zum Hausaltar, ließ sich davor im Lotussitz nieder und versenkte sich tief in sich selbst. Die junge Kriegerin überließ sich ganz dem Strom ihres Unterbewusstseins, der sie immer weiter in die verborgenen Schichten ihres Geistes führte. Sie ließ all ihre Ängste hinter sich, vergaß sogar den Zorn, der in ihr wütete und sie dazu anstachelte, kurzen Prozess zu machen mit denen, die ihre gerade erst wiedergefundenen Eltern bedrohten.
»Tin Hau, leite mich«, flüsterte Chin-Li.
Und dann spürte sie in sich die Präsenz des Göttlichen. Es war Chin-Li egal, ob Tin Hau wirklich da war oder ob der bloße Glaube an sie Ebenen ihres Bewusstseins öffnete, die ihr sonst verschlossen blieben. Es lief auf dasselbe hinaus. Ihre Gedanken wurde rein und klar wie frisches Quellwasser, und sie sah ganz deutlich vor sich, was sie zu tun hatte.
***
Flackernde Kerzen tauchten den kargen Saal in ein gespenstisches Licht und warfen harte Schatten auf die neun greisen Männer, die sich an seinem Ende versammelt hatten. Hinter ihnen bedeckte ein blutroter Vorhang die Wand, auf dem das stilisierte Bild eines Drachen prangte.
Dieser düstere Ort war das Heiligtum der Neun Drachen. Hier kamen die Oberhäupter des Ordens seit jeher zusammen, um über die Geschicke der Bruderschaft zu beraten und die Geschicke Hongkongs zu leiten. Die neun in safrangelbe Kutten gekleideten Männer hatten das festungsähnliche Kloster im dicht besiedelten Stadtteil Mong Kok schon seit vielen Jahren nicht mehr verlassen. Doch sie verfügten über ein ausgezeichnetes Informationssystem, das sie über alle Ereignisse in der Stadt auf dem Laufenden hielt.
Und die neuesten Nachrichten waren gar nicht gut. Yuen Ma, der Betreiber eines Kasinos im Hafen, war brutal ermordet worden, ebenso wie zwei seiner Leibwächter. Das Beunruhigende daran war, dass der Anschlag offenbar während des laufenden Betriebs passiert war. Dennoch hatte niemand etwas bemerkt. Das war inzwischen drei Tage her, und es gab immer noch nicht die geringste Spur.
Langsam verlor Meister Shiu die Geduld. Deshalb hatte das Drachen-Oberhaupt Bruder Chow einbestellt, um den Köpfen des Ordens Bericht zu erstatten. Der hagere Drachenpriester fungierte als Sicherheitschef der Bruderschaft. Er koordinierte die militärischen Operationen des Ordens und leitete alle Untersuchungen, aus denen man die Polizei lieber heraushalten wollte.
Chow hatte sein Geschick als Ermittler oft genug unter Beweis gestellt, doch diesmal tappte er völlig im Dunkeln. Umso grausiger waren die blutigen Details, mit denen er die Oberhäupter des Ordens konfrontierte. Fassungslos starrten die Greise auf die Tatortfotos, die der Sicherheitschef ihnen mitgebracht hatte.
»Für mich sieht das nach einem Bandenkrieg aus«, sagte Bruder Lo. In seinen Händen hielt er ein Bild, das den zerfetzten Leichnam von Yuen Ma zeigte. Der Kasinochef musste vor seinem Tod entsetzlich gelitten haben.
»Unmöglich«, erwiderte Bruder Hong. Sein faltiges Gesicht erinnerte an einen Bernhardiner. An einen sehr alten Bernhardiner. »Das Kasino stand unter unserer direkten Aufsicht. Niemand in Hongkong würde es wagen, die Neun Drachen herauszufordern.«
»Es ist schon einmal geschehen«, hielt ein dritter Mönch entgegen.
»Und wir haben gesiegt, Bruder Feng.«
»Aber nur mit Hilfe des fremden Zauberers.«
»Genug!«, sagte Meister Shiu scharf. Es war nicht nötig, dass sie vor einem untergeordneten Priester Schwäche zeigten. Niemand durfte erfahren, dass es ein Franzose namens Zamorra gewesen war, der Hongkong damals vor dem Fremden gerettet hatte. Es war schlimm genug, dass sie selbst mit dieser Schmach leben mussten.
Das Drachen-Oberhaupt wandte sich an den vor ihm knienden Sicherheitschef. »Bruder Chow, das Kasino war voller Magier und Adepten. Von den Leibwächtern ganz zu schweigen. Wie kann es sein, dass niemand etwas gesehen oder gehört hat?« Er deutete auf das Foto des zerfetzten Leichnams, das Lo immer noch in den Händen hielt. »Niemand stirbt so, ohne sich die Seele aus dem Leib zu schreien.«
»Wir wissen es nicht. Wir haben alle Drachendiener an Bord einem gründlichen magischen Scan unterzogen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass ihre Erinnerungen manipuliert wurden.«
Oder derjenige, der das getan hat, war gut genug,
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