0910 - Der Totflüsterer
Sandru ging in die Küche, sah aus dem Fenster, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.
Immer wieder ging ihm das Angebot durch den Kopf, das Edouard Pereire ihm unterbreitet hatte. Vor ein paar Stunden. In der Firma.
Kommen Sie zu mir! Aber nehmen Sie sich in Acht!
Zuerst hatte Sandru gar nicht mit Pereire sprechen wollen. Wie der schon aussah! Wie konnte man nur so ungepflegt herumlaufen? Was hätte ihm dieser Widerling bieten können außer vielleicht einer Menge Ungeziefer. Kleine, krabbelnde Käfer, die dann über seinen Körper kriechen würden mit ihren dünnen, spitzen Beinchen. Besser, er ließ den Kerl nicht zu nahe an sich heran!
Doch diese Bedenken waren völlig unbegründet gewesen, wie er nun wusste. Pereire war nicht der Gefährliche! Nein, sie waren es! Pereire hatte ihn sogar vor ihnen gewarnt.
Nehmen Sie sich in Acht! , hatte er gesagt. Vor wem anders als vor ihnen hätte er sich in Acht nehmen sollen?
Inzwischen war er Pereire sogar dankbar, dass der ihm die Gelegenheit gegeben hatte, von Luynes und ihnen wegzukommen. Er wusste aber auch, dass es so einfach nicht werden würde.
Denk an Aurelie!
Ja, er dachte an Aurelie. Nicht eine Sekunde glaubte er daran, dass sie wirklich überfahren worden war. Nein, nein! Niemals! Sie hatten sie bekommen. Wahrscheinlich wollte sie auch von Luynes weg, aber das konnten sie nicht zulassen.
Wie hätte er heute in so einer Umgebung weiter arbeiten können? Wie hätte er den Tag beenden sollen, ohne sich ständig über die Schulter blicken zu müssen? Es war die richtige Entscheidung gewesen, nach Hause zu gehen und abzuwarten.
Wenn er sich nur sicher sein könnte, dass er hier außer Gefahr war. Aber das konnte er nicht. Sie waren überall!
Er hetzte ins Wohnzimmer und sah dort aus dem Fenster.
Nein, da war auch nichts.
Halt!
Ein BMW fuhr auf den Parkplatz und eine Frau und ein Mann im weißen Anzug stiegen aus.
Die kannte er doch! Die hatte er schon mal irgendwo gesehen!
Wo? Wo war das gewesen?
In der Firma! Richtig! Kurz nachdem Pereire ihn gewarnt hatte. Sie waren auf der Galerie erschienen, hatten ihn angestarrt. Ganz in der Nähe von Luynes' Büro.
Luynes! Er hatte sie ihm nachgeschickt. So musste es sein.
Der Kerl und sein Flittchen gehörten auch zu ihnen .
Natürlich! Und jetzt hatten sie ihn gefunden.
Was sollte er tun? Fliehen? Kämpfen?
Er ließ den Vorhang zurück vors Fenster fallen und zerrte sich an den Haaren. Die Schmerzen halfen ihm, klarer zu denken. Wie ein Tiger im Käfig lief er hin und her und hin und her. Immer wieder.
Da klingelte es!
Sandru zuckte zusammen und gab ein erschrockenes Quieken von sich.
Das Appartement war so geschnitten, dass er vom Wohnzimmer aus einen direkten Blick auf die Eingangstür hatte - und auf das kleine, graue Kästchen darüber, aus dem der Klingelton gerade erklungen war. Sandru starrte es vorwurfsvoll an und entdeckte einen schwarz schillernden Käfer, der darübertrappelte.
Es schüttelte ihn vor Ekel!
Mit Mühe gelang es ihm, sich zusammenzureißen. Es gab jetzt Wichtigeres! Nämlich die Frage, was er wegen der unliebsamen Besucher, wegen Luynes' Spionen, wegen ihren Abgesandten unternehmen sollte.
Das Beste war, er machte nicht auf! Dann würden sie wieder gehen. Genau! Woher sollten sie wissen, dass er daheim war? Das konnten sie nicht wissen!
Es klingelte wieder.
Sie gehören zu ihnen, du Einfaltspinsel. Sie wissen genau, dass du hier bist!
Wo kam denn plötzlich Pereires Stimme her?
Sie dürfen dich nicht kriegen, hörst du? Nimm dich in Acht!
Nein! Sie würden ihn nicht kriegen.
Mit zittrigen Beinen hetzte er ins Schlafzimmer. Dort stand gegenüber des Betts sein Waffenschrank. Cedric Sandru war Sportschütze. Nicht der beste im Verein, aber leidlich gut. Auf jeden Fall gut genug, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen.
Er fegte die Käfer zur Seite, die über dem Schlüsselloch saßen und ihn aus ihren Facettenaugen anglotzten. Als er den Schlüssel ins Schloss schob, knirschte das Chitin eines darin steckenden Krabbelviehs, das sich wohl für besonders vorwitzig gehalten hatte.
Sandru riss die Schranktür auf und packte die Heckler & Koch. Dann zerrte er die Schublade mit der 45er Munition auf. In ihr entdeckte er ein zuckendes und wogendes Meer aus schillernden Käferkörpern. Sie wuselten übereinander hinweg. Das Geräusch, das dabei entstand, erinnerte Sandru an das Rascheln von Papier.
Zögern kam nicht infrage! Er biss die Zähne zusammen und tauchte mit der
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