0910 - Der Totflüsterer
Hand in die Krabbelflut. Während er nach dem Magazin grub, bemerkte er, dass auch grünlich schimmernde und gelblich behaarte Leiber über seine Hand krochen. Die spitzen Beine pikten, die scherenartigen Mundwerkzeuge zwickten ihn in die Haut.
Er kotzte neben den Schrank, doch er gab nicht auf!
Endlich hielt er das Magazin in Händen. Er rammte es in das Griffstück der Pistole und eilte zurück ins Wohnzimmer.
Neben dem Sofa kauerte er sich nieder.
Sollten sie nur kommen! Sie würden ihr blaues (oder grünlich schimmerndes, gelblich behaartes?) Wunder erleben.
Schweiß rann ihm über das Gesicht. Die Lippen formten fortwährend die unhörbaren Worte: Sie werden mich nicht bekommen!
Nach einigen Sekunden stand er wieder auf. Er konnte von hier aus zwar die Wohnungstür sehen, aber für einen sicheren Schuss war sie zu weit entfernt.
Also näherte er sich ihr auf zwei Meter. Dass er dabei durch Käferkörper waten musste, störte ihn inzwischen nicht mehr. Sie waren wichtiger!
»Wie war die Nummer? Zwo Punkt zwo, richtig?«
Die Stimme drang durch die Tür gedämpft an Sandrus Ohr. Dennoch verstand er jedes Wort. Sie waren hier!
»Ich bewundere die Brillanz deines Gedächtnisses, Chérie!«
Das war das keifende Organ des Flittchens! Sandru umklammerte den Griff der Waffe fester.
»Ich danke dir.« Wieder die leise Stimme des Dämons im weißen Anzug.
Cedric Sandru hob die Pistole und richtete sie auf die Tür.
»Ha! Schau dir das an. Der erste Makel in dieser perfekten Anlage. Hier steht nur eine Zwei. Die Stockwerksangabe davor fehlt!«
»Na, wenn das kein Grund für eine Mietkürzung ist.«
Wovon sprachen die beiden Widerwärtigen? Wollten sie ihn mit ihren harmlosen Worten in Sicherheit wiegen? Das funktionierte nicht!
Während die Waffenhand weiter ganz ruhig auf die Tür gerichtet war, riss Sandru sich mit der anderen ein Büschel Haare aus. Dabei zermalmte er zwischen den Fingern eine ganze Käferschar. Der köstliche Schmerz, der durch die Kopfhaut zuckte, beruhigte ihn.
Die Klingel ertönte!
Sandru schloss die Augen. Wie ein Gebet murmelte er noch einmal: » Sie werden mich nicht bekommen!« Dann öffnete er die Augen und leerte das komplette Magazin in die Tür. Von oben bis unten, von links nach rechts jagte er alle zehn Kugeln durch das Holz.
Nach nicht einmal fünf Sekunden war der ganze Spuk vorbei. Der Hall des letzten Schusses verklang und er hörte draußen einen dumpfen Schlag. Ein zu Boden stürzender Körper?
Ein gemeines Grinsen durchzog sein Gesicht.
»Oh, mein Gott! Chérie!«
Die Stimme des Flittchens klang hysterisch!
Sandru riss die Tür auf. Er starrte auf den blutüberströmten Mann, der im Flur lag. Obwohl Tausende von Käfern über den von Kugeln zerfetzten Körper krabbelten, sah er den Schmerz in den Augen des Mannes. Und die Fassungslosigkeit.
Ein irres Lachen entrang sich Sandrus Kehle.
»Hab ich dich! Ich hab gleich gewusst, dass ihr mich nicht bekommt!«
***
79 v. Chr. - Rhetts Erinnerung
Mit jedem Schritt, den Logan in Richtung seines Hauses setzte, entschwanden die Stimmen seiner Freunde mehr.
Der Zwanzigjährige hatte es eilig, heimzukommen. Zu seinen Eltern, seinem Halbbruder… und natürlich seiner geliebten Selverne.
Sie war für ihn viel mehr als das schönste Mädchen im Dorf. Sie war seine Seelenverwandte. Das hatte Logan schon sehr früh erkennen können. Alles an ihr verzauberte ihn. Sie würde irgendwann - wahrscheinlich früher als viele dachten - seine Frau werden und ihm eine große Familie schenken.
Wenn er an sie dachte, mischte sich aber auch immer Bedauern in seine Gefühle. Er liebte diese Frau mehr als alles andere und doch war sie nicht diejenige, die dem nächsten Erbfolger das Leben schenken würde. Denn dazu müsste sie noch mindestens weitere 238 Jahre leben!
Logan beeilte sich.
Derek, der Anführer der Jagdgemeinschaft, mit der Logan während der letzten zehn Tage unterwegs gewesen war, um genügend Vorräte für den bevorstehenden Winter zu beschaffen, hatte seine Gefährten zu einem (oder mehreren) Humpen Met eingeladen.
Natürlich war Logan der Einladung gefolgt, hatte sich nach einem Becher aber mit dem Hinweis verabschiedet, er sei müde und freue sich darauf, in seinem eigenen Lager schlafen zu können.
Viele seiner älteren und mitunter verheirateten Freunde hatten wissend gegrinst und sich wieder ihren berauschenden Getränken gewidmet.
Logan tauchte in die Dunkelheit ein, die das Dorf nicht nur einfach
Weitere Kostenlose Bücher