0910 - Der Totflüsterer
umschloss, sondern die sich auch in seine schmalen Wege und Gassen gezwängt hatte.
Die meisten Menschen im Ort hatten sich zur Ruhe begeben und schliefen einem neuen Tag voller Arbeit entgegen. Morgen würden viele von ihnen damit beschäftigt sein, das Wildbret gerecht aufzuteilen und einzulegen.
Es war kalt und die Luft stach in den Lungen. Der erste Schnee war nicht mehr fern und Logan nahm an, dass das himmlische Weiß mit einem starken Sturm Einzug halten würde, denn die Wipfel der hohen Tannen nördlich des Dorfs wiegten sich knarrend hin und her.
Unvermittelt blieb Logan stehen und ließ seinen Blick schweifen.
Er konnte es nicht erklären, aber ein merkwürdiger Rhythmus lag in den Bewegungen der Bäume. Sanft strichen einige der Äste über die äußerste der drei hölzernen Palisaden, die das Dorf umgaben, und ein eigenartiges Wispern erfüllte die kalte Nachtluft.
Leise Stimmen, die sich unterhielten?
Unruhe erfüllte ihn. Konnte es sein, das er zwischen den verschiedenen Stimmen und den undeutlich wispernden Lauten ein einzelnes Wort vernahm, das er kannte? Ein Wort, das ihn bis ins Mark erschreckte?
Erbfolger!
Logan presste die Lippen aufeinander.
Im Dorf regte und rührte sich nichts und auch jene unwirklichen Stimmen verstummten jäh.
Der junge Mann hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen, wo er Sicherheit und Geborgenheit zu finden hoffte.
In seinem tiefsten Inneren spürte er, dass sich die Hoffnung nicht erfüllen würde. Und er wusste auch, warum!
Er war wieder hier! Jener unheimliche Besucher, der ihn vor zehn Jahren so erschreckt und seitdem immer wieder besucht hatte.
Logan hatte nie irgendjemandem von ihm und seinen geheimnisvollen Andeutungen berichtet.
Der Tag der Vereinigung ist nah!
Die Erbfolge liegt in meinen Händen!
Nähre deine Wut!
Solche und ähnlich unverständliche Sätze hatte er von sich gegeben. Zwei oder drei Mal im Jahr, zehn Jahre lang!
Natürlich wusste Logan inzwischen, was es mit der Erbfolge auf sich hatte. Die Erinnerungen an seine letzten zwei Leben waren erwacht, die Llewellyn-Magie hatte sich in ihm manifestiert. In den Sätzen des nächtlichen Besuchers mit der gespaltenen Lippe konnte er dennoch keinen Sinn erkennen.
Bisher hatte der Dämon (denn um nichts anderes konnte es sich handeln) ihn weder bedroht, noch sich seiner Familie gezeigt. Würde es auch diesmal so sein?
Sein Haus war das größte und schönste des ganzen Dorfes, doch die Bewohner neideten es ihm nicht. Sie wussten um die Erbfolge und deren Bedeutung für das Gute in der Welt.
Mit brennender Lunge und rasselndem Atem erreichte er den Bau aus Stein und Holz.
Er umfasste den Griff der Tür und drückte sie ins Innere. Wärme schlug ihm entgegen.
»Selverne? Mutter?«
Als er ins Innere der Hütte blickte, weiteten sich seine Augen und die Wärme, die er eben noch gespürt hatte, verwandelte sich binnen eines Lidschlages in eisige Kälte.
Er sah seine Familie!
Mutter, Haskell, Riley. Und Selverne, seine über alles geliebte Selverne!
Sie saßen nicht gemeinsam am Tisch, sondern standen nebeneinander auf den hölzernen Stühlen, die er selber als Sitzgelegenheiten gefertigt hatte.
Jedem von ihnen war eine Schlinge um den Hals gelegt worden, die über ihnen im Dachgebälk der Hauses befestigt worden war. Die Seile waren nicht straff gespannt. Noch nicht!
Vor seinem inneren Auge sah Logan, was passieren würde, sobald jemand die Stühle wegzog: Einen Augenblick lang fielen die Körper, doch nicht lange, dann straffte sich das Seil mit einem Ruck und brach ihre Genicke wie dürres Holz.
Logan sah die Tränen seiner Mutter und las die Verzweiflung in ihren Augen. Selverne bewegte fortwährend die blassen Lippen, ohne einen Ton von sich zu geben. Die Arme hingen frei herunter und doch versuchten sie nicht, sich von den Schlingen zu befreien. Warum nicht?
Wer hatte ihnen das angetan? Wer hatte ihm das angetan?
Was für eine Frage! Er wusste genau wer!
Der Erbfolger schüttelte die Starre ab, trat vor und wollte ihnen zur Hilfe eilen. Hinter ihm ertönte ein lautes Krachen und er fuhr herum.
Der Hüne mit der gespaltenen Lippe hatte die Tür zugeschmettert und grinste Logan an.
Bei besserem Licht betrachtet, wirkte sein Gesicht sogar noch verwüsteter, als in jener Nacht, da er Logan das erste Mal heimgesucht hatte.
»Ich grüße dich! Die Zeit ist reif für einen weiteren Besuch. Und dafür, deine Wut zu nähren!«
Logan schüttelte seine Verblüffung ab. Er
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