0910 - Der Totflüsterer
waren weit geöffnet und flackerten hektisch hin und her.
»Rhett? Was ist los?«
Der Erbfolger nahm den Drachen nicht wahr.
Eine Erinnerung! Das musste wieder eine dieser unleidigen Erinnerungen sein!
»Hilfe«, flüsterte Fooly.
Dann drehte er sich um und tippelte auf das Château zu.
»Hilfe! Ich könnte hier etwas Hilfe gebrauchen!«
Aus dem Flüstern war ein Schreien geworden.
***
Jeder Schritt, der sie näher an das Büro des Chefs heranbrachte, fiel ihr schwerer.
Des neuen Chefs, wie Aurelie Gaillard sich immer wieder vorsagte.
Mit zittrigen Händen strich sie sich über die glatten, schwarzen Haare, die sie wie immer streng nach hinten gebunden hatte. Ihr Blick war nach unten auf die Füße gerichtet. Auch wenn sie nicht wusste, warum Roger Luynes sie in ihr Büro zitiert hatte, fürchtete sie das Schlimmste.
Seit dem Tod seines Vaters hatte Luynes junior das Sagen bei Luynes Ball Bearing , also seit gut drei Monaten. In dieser Zeit hatte er sich als unfähig in jeder Hinsicht erwiesen. Mit einer Reihe offensichtlicher Fehlentscheidungen hatte er den Konzern in Windeseile in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, letztlich aber seine Mitarbeiter dafür verantwortlich gemacht. Auf Anraten seiner Anwälte hatte er zwar privates Vermögen verkauft, den Erlös in die Firma gepumpt und so die Zahlungsunfähigkeit abwenden können. Doch kaum war das Schiff wirtschaftlich wieder halbwegs auf Kurs, bombardierte das Schicksal es mit Kanonenkugeln anderer Art: Innerhalb von ein paar Wochen waren fünf Angestellte aus der Führungsetage ums Leben gekommen. Unfälle und Selbstmord, zumindest erzählte man sich das.
Aurelie wusste es besser, denn sie wusste von ihnen .
»Guten Morgen, Madame Gaillard.«
Sie zuckte zusammen und sah auf. Ein junger blonder Mann lächelte sie freundlich an, als er an ihr vorbeiging.
»Morgen«, murmelte sie. Sie lächelte nicht zurück.
Wer war das doch gleich wieder? Irgendein Neuling aus der Buchhaltung, oder?
Egal! Es lohnte sich ohnehin nicht mehr, sich den Namen zu merken, denn allzu lange würde sie nicht mehr in der Firma sein.
Edouard Pereire, der Inhaber einer Konkurrenzfirma, hatte ihr vorgestern das Angebot zugeflüstert, zu ihm zu wechseln. Bessere Arbeitszeiten, ein etwas besseres Gehalt und vermutlich ein erheblich besseres Betriebsklima.
Noch vor einem halben Jahr hätte Aurelie nicht im Traum daran gedacht, so ein Angebot auch nur in Erwägung zu ziehen! Solange Clement Luynes der Chef war, hätte sie nicht einmal für deutlich mehr Geld gewechselt. Aber jetzt, wo Roger Luynes die Geschicke - oder besser: die Ungeschicke der Firma in der Hand hatte, war das Angebot sehr verlockend!
Außerdem fühlte sie sich nicht mehr sicher. Die Leute konnten erzählen, was sie wollten - sie wusste, dass es bei den Todesfällen nicht mit rechten Dingen zugegangen war.
Sie steckten dahinter! Sie , die sich hinter den harmlosesten Gesichtern verbargen, zum Beispiel hinter dem eines jungen, blonden, lächelnden Mannes. Wer sagte ihr denn, dass der Neuling aus der Buchhaltung nicht auch zu ihnen gehörte? Fletschte er hinter der freundlichen Fassade bereits die Zähne?
Nein, Aurelie bekamen sie nicht! Keinesfalls würde sie das sechste Opfer werden. Nach ihrem Wechsel zu Pereire war sie außer Gefahr.
Sie blieb noch einmal stehen. Es waren nur noch wenige Meter bis zu Roger Luynes' Tür.
Aurelie sah nach links über die gläserne Brüstung. In der Eingangshalle zwei Stockwerke tiefer standen drei Männer und tuschelten miteinander. Hatten sie nicht gerade noch zu ihr hochgesehen? Und dort der Geschäftsmann im Anzug. Er saß auf der weißen Ledercouch, einen großen Aktenkoffer zwischen den Füßen, und las unauffällig in der Zeitung. Auffällig unauffällig, wie Aurelie fand.
Es war Zeit für sie, endlich von hier zu verschwinden.
Der hochflorige Teppich schluckte die Geräusche der letzten Schritte, mit denen sie die Entfernung zu dem Schreibtisch zurücklegte, der vor Luynes' Büro stand. An ihm saß eine ältere Frau mit eulenhaftem Gesicht. Auf ihrer Nase thronte eine schmale Brille.
»Hallo, Madame Gaillard.« Die freundliche Stimme passte kein bisschen zum Aussehen der Frau. Vielleicht war sie auch eine von ihnen .
»Hallo, äh…«
Aurelie hatte den Namen vergessen! Seit mindestens zehn Jahren war die Eule nun schon Chefsekretärin und ausgerechnet heute konnte Aurelie sich nicht mehr an ihren Namen erinnern! Unglaublich.
Viel schien der Eule das aber
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