0915 - Macht des Schicksals
Etwas Fremdes drang auf sie ein. Es bewegte sich schleichend heran, es hatte sie erreicht, es drehte sich in der Nähe ihres Kopfes, und sie wußte plötzlich, daß es die Vorboten des Schattens waren, die er ihr geschickt hatte.
Kalte Schauer bewegten sich über ihren Rücken. Sie rannen von oben nach unten, und Mary Sinclairs Lippen zuckten, während sich gleichzeitig ihr Gesicht verhärtete.
Das Gesicht wurde zur Maske, und sie glaubte, einen Befehl erhalten zu haben, denn sie legte den Kopf zurück, um zur Decke zu schauen.
Dort tat sich etwas.
Eine dünne, rauchgraue Wolke - so kam es ihr mindestens vor - war aus der glatten Decke gekrochen. Kaum hatte Mary sie entdeckt, da wußte sie auch, daß es keine Wolke war, sondern der Schatten, der nicht außerhalb des Hauses, sondern in seinem Innern gelauert hatte.
Es war soweit!
Die andere Macht hatte einen günstigen Zeitpunkt abgewartet, um zuschlagen zu können. Sie war stärker, viel stärker als ein normaler Mensch, und Mary Sinclair spürte, wie ihr eigenes Ich allmählich verschwand, ohne daß sie sich dagegen wehren konnte. Etwas anderes ergriff von ihr Besitz und lähmte zugleich ihr menschliches Denken.
Jetzt war sie nicht mehr in der Lage zu handeln. Es gab für sie nur den Schatten, der sich dicht unter der Decke ausgebreitet hatte und wie ein dünnes Gewässer dort festhing. Er war nicht starr, er bewegte sich in seinem Innern. Es erschienen dort Wolken, die wiederum Kreise bildeten, kein Geräusch abgaben und in ihrer Lautlosigkeit so erschreckend wirkten.
Mary Sinclair konnte sich nicht wehren. Außerdem wollte sie es nicht, denn der Schatten hatte in diesem Haus und auch bei ihr das Kommando voll und ganz übernommen.
Sie wartete mit dem zurückgelegten Kopf auf ihn und schaute zu, wie er sich ihr entgegensenkte. Er kam nicht mehr als Wolke. Auf dem kurzen Weg hatte er sich verändert und war zu einem rauchigen und durchscheinenden menschlichen Umriß geworden.
Er wollte sie.
Er würde sie bekommen.
Mary breitete die Arme aus. Von allein hatte sie es nicht getan. Es war ihr irgendwie befohlen worden. Eine Chance, sich zu wehren, gab es für sie nicht.
Der Schatten hüllte sie ein. Und während er sie als Opfer übernahm, löste er sich auf. Er brauchte sich nicht mehr zu zeigen, denn er war jetzt voll und ganz mit der menschlichen Person integriert und nur darauf kam es ihm an.
Mary und er waren eine Person.
Durch die Gestalt der Frau ging ein Ruck. Sie hob dabei ihre Schultern an und wirkte wie ein Mensch, der sich zu einer bestimmten Tat entschlossen hatte. Auch der Ausdruck in den Augen war ein anderer geworden. Hatte er vor kurzem noch sehr menschlich und auch betrübt gewirkt, so war er jetzt verschwunden. In den Pupillen lagen der kalte, böse Glanz, die Gier und der Mordwille.
Sie würde es tun.
Sie würde einen Menschen töten.
Und sie wußte auch genau, wer es war. Horace, ihr Mann!
Kaum war der Vorsatz in ihr aufgebaut worden, da veränderte sich auch ihr Gesicht. Mary öffnete den Mund. Sie knurrte und schnaubte dabei wie ein Tier. Sie war bösartig geworden, das Menschliche war ihr fremd, sie wollte endlich den Tod durch ihre Hand.
Auch die unsichtbare Mauer der Küche war verschwunden. Die Frau bewegte sich wieder normal.
Zwar nicht locker, sondern mit etwas steifen Schritten, doch das Ziel stand längst fest. Es lag nicht in der Küche, sie wollte dorthin, wo die Waffen ihres Mannes in einem dafür vorgesehenen Schrank standen. Es gab einen in der Diele und einen zweiten in Horaces Arbeitszimmer. Dort bewahrte er einige Revolver und Pistolen auf, auch ältere Modelle befanden sich darunter, beinahe schon historische.
Mit den Revolvern konnte Mary Sinclair nicht so gut umgehen. Wenn sie schoß, wollte sie sich auf ein Gewehr verlassen. Das lag besser in ihren Händen, damit konnte sie auch umgehen, und sie würde denjenigen schon treffen, auf den es ihr ankam.
Vor dem Waffenschrank blieb sie stehen. Auch ihr Mann hatte dort das Gewehr herausgeholt. Ob er oder John es später wieder hineingestellt hatten, wußte sie nicht, wichtig war für sie das Vorhandensein der Waffen und auch, daß der Schrank nicht verschlossen war und sie erst noch den Patentschlüssel suchen mußte.
Sie zog ihn auf.
Ihre Blicke glitten über die mit den Mündungen nach oben aufgestellten Gewehre. Mary wußte, daß sie keine Waffe zu laden brauchte, sie alle waren schußbereit.
Sie entschied sich schnell. Zwischen ihren Händen hielt sie
Weitere Kostenlose Bücher