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0919 - Bücher des Grauens

0919 - Bücher des Grauens

Titel: 0919 - Bücher des Grauens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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wohl so etwas wie einen Altobersten nennen, einen Dorfältesten, falls dieser Begriff Ihren Ohren geläufiger sein sollte. Also: Man nennt mich Aldebar. Wer sind Sie?«
    »Zamorra«, antwortete der Professor. Er hatte durchaus bemerkt, dass sich Aldebar einer anderen Anrede bedient hatte und ihn siezte, im Gegensatz zu allen anderen Anwesenden. Irgendetwas haftete an dem Greis, das nicht so recht in diese Gesellschaft zu passen schien. Etwas nahezu Archaisches. »Ich komme aus dem Frankreich des Jahres 2009.«
    Aldebar lachte leise, humorlos. Der Blick seiner stahlblauen Augen wich nicht für eine Sekunde von Zamorra. »Nein, das tun Sie nicht«, sagte er leise, aber bestimmt. Es klang traurig. »Das können Sie gar nicht, wenngleich es sicherlich der Wahrheit entspricht. Zumindest ihrer eigenen, subjektiv empfundenen Wahrheit.«
    »Ich fürchte, ich verstehe nicht.« Zamorra schüttelte den Kopf. »Ich stamme aus 2009, das garantiere ich. Warum sollte ich das nicht können, wo mich doch die Slissaks durch die Zeit beförderten.«
    »Weil die Zahl, die Sie da nennen, nicht minder bedeutungslos ist, wie mein Name«, antwortete Aldebar ruhig. »Weil Sie sich an Sachen und Ereignisse erinnern, die in dem, was aus der Welt wurde, nie so stattgefunden haben. Die Gegenwart ist Ihnen fremd, weil die Vergangenheit, aus der Sie stammen, verändert wurde und nicht länger existiert.« Er lächelte mitleidig. »Guter Mann, Sie müssen aufhören, linear zu denken. Die Zeit ist längst nichts Chronologisches mehr.«
    ***
    Die Nacht war klar, der dunkle Himmel unverhüllt. Zahllose Sterne erfüllten das Firmament über der Domstadt am Rhein, und das Licht eines fahlen Mondes erhellte die von allerhand Schlingpflanzen, Moosen und Buschwerk überwucherten Ruinen der einstigen menschlichen Zivilisation. Stille herrschte in diesen nächtlichen Stunden, hüllte die Stadt Mainz ein wie eine Decke, unter der jeglicher Laut verschluckt blieb. Kein Vogel mehr, der sich zwitschernd hätte zu Gehör bringen können; kein Hund, dessen Gebelle von den Wänden der leer stehenden Häuser widergehallt wäre. Katzenjammer, das Brummen von Automobilmotoren - all dies gehörte einer Vergangenheit an, die, soviel hatte Zamorra mittlerweile zweifelsfrei festgestellt, in diesem Hier und Jetzt kaum mehr als eine Legende war. Eine Zeit, derer sich nahezu niemand mehr aus eigener Erfahrung erinnerte. Oder… sich nicht erinnern wollte?
    Ein Pfiff erschallte von irgendwo aus der Dunkelheit zwischen den Gebäuden, die wie Relikte einer fremden Kultur wirkten. Wie vom Zahn der Zeit und der Natur längst für sich beanspruchte Maya-Tempel, dachte Zamorra und erinnerte sich an eine Reise nach Südamerika, bei der er einem antiken Kult auf die Spur gekommen war. [3] Das lag Monate zurück - oder Generationen, je nachdem, wessen Zeitrechnung und -verständnis er nun noch Glauben schenken wollte.
    »Das war das Zeichen«, flüsterte ein stämmiger Rothaariger und winkte Zamorra, Aldebar und den anderen zu, die hinter ihm im Eingang eines alten Steakhauses standen, das, wie der Professor mittlerweile wusste, in die unterirdischen Höhlen seiner Retter führte. Redo-Klan , dachte der Professor halb amüsiert. Na klar…
    Aldebar legte ihm die Hand auf die Schulter. »Gehen wir«, sagte er fest. »Schnell.«
    Und dann waren sie draußen. Es waren zehn Männer unterschiedlichen Alters. Sie schlichen sich aus dem Eingang hinaus ins Freie und bewegten sich mit einer Selbstverständlichkeit und einem Geschick durch das nächtliche Dunkel, als wären ihre Augen an derartige Lichtverhältnisse gewöhnt. Vermutlich waren sie das auch.
    »Dort lang, Professor. Einfach geradeaus.« Der Alte streckte den Arm aus und deutete auf ein vielleicht zwanzig Meter hohes und rechteckiges Gebäude, das einige Dutzend Schritte vor ihnen lag und wie ein breiter Monolith in den dunklen Nachthimmel ragte. Es sah edel aus: Eine breite Treppe führte zu einem von Säulen umsäumten Eingang, der von hölzernen Türen verdeckt wurde. Darüber befanden sich, in einer dichten Reihe nebeneinander stehend, mehrere meterhohe Fenster, bevor sich ein flaches Dach anschloss. Und auf diesem, ein wenig nach hinten versetzt, stand ein zweites Rechteck - eine letzte Etage, die rundum von gläsernen Fenstern umsäumt war. Ein Glaskasten, ein ganzes Stockwerk aus Scheiben. Dies, so hatte man dem Mann aus der Vergangenheit berichtet, war das Ziel ihrer nächtlichen Wanderung.
    Sie dauerte nur Minuten. Die

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