0919 - Die Rache
Hinsicht war sie auch nur die Spitze eines Eisbergs, denn hinter ihr steckte noch eine andere Kraft. Vicenca drehte sich um, und sie wunderte sich plötzlich, wie locker sie doch war. Dann schaute sie endlich auf eine gewisse Stelle am Boden, und sie erkannte, daß es kein schwarzer Fleck war, sondern ebenfalls ein zartes Pflänzchen, das sich mit der Macht eines Bohrers durch den Bodenbelag gedreht hatte.
Es war soweit, und Vicenca wußte es. In ihrem Zimmer blieb sie wie eine Göttin stehen, den Blick nach innen gerichtet, und sie dachte über die Rache der Natur nach.
Lange blieb sie nicht auf ihrem Platz stehen. Was sie gesehen hatte, darüber mußte sie mit ihrem Mann sprechen, damit sie gemeinsame Entscheidungen treffen konnten.
Pepe aber schlief.
Vicenca schüttelte den Kopf und schaute auf die bewegungslose, halb auf die rechte Seite gerollte Gestalt. Ausgerechnet jetzt mußte er einschlafen. Sie kannte ihren Mann. Er wurde unleidlich, wenn man ihn aus dem Schlaf riß, und das konnte sie nicht riskieren. Es gab sowieso schon Ärger genug.
Vicenca ging wieder zurück in die Küche und schaute sich die beiden Pflanzen an. Seltsam, sie fürchtete sich nicht vor ihnen. Inzwischen hatte sie sich an dieses Stück Natur in einer ungewöhnlichen Umgebung gewöhnt und sich irgendwo damit angefreundet.
Gewachsen waren sie nicht, und sie hatten sich auch nicht weiter vorgeschoben. Sie blieben, als wollten sie sagen: Hier bin ich und hier bleibe ich. Das ist mein Land. Dort vertreibt ihr mich nicht.
Vicenca Marcas lächelte, als ihr diese Gedanken kamen. Die Pflanzen hatten im Prinzip recht. Das war auch ihr Land. Davon waren sie durch Menschenhand vertrieben worden, und niemand konnte ihnen eine Rückkehr verwehren, auch wenn die Menschen es anders sahen. Die Frau ging auch nicht davon aus, daß sich die Pflanzen nur in ihrer Wohnung gezeigt hatten, nein, die waren und die mußten auch in andere Räume eingedrungen sein. Still, heimlich und unheimlich hatten sie diesen verdammten Betonkasten unterwandert und ihn zu einer Beute gemacht.
Darüber lächelte sie, zum ersten mal, und seltsamerweise fühlte sie sich sogar gut. Die bedrückende Furcht war verschwunden, das neue Erlebnis hatte das alte zurückgedrängt. Die Begegnung mit diesem Wesen erschien ihr in der Erinnerung weniger schlimm, aber trotzdem traute sich Vicenca nicht, vor die Tür zu gehen. Sie wollte so lange warten, bis sie einfach das Bedürfnis überkam.
Aus dem Nebenraum hörte sie das Schnarchen ihres Mannes. Die Laute waren unregelmäßiger geworden, hin und wieder durch ein schnelles Schnappen nach Luft unterbrochen. Sie hörte auch Pepes Stimme, aber sie verstand nicht, was er vor sich hinbrabbelte.
Die üblichen Geräusche entstanden, wenn sich jemand auf der Liege bewegte. Ein Beweis dafür, daß Pepe im Begriff war, langsam aufzustehen. Schlurfende Schritte, der Vorhang wurde zur Seite gedrückt, dann erschien ein müder und noch gähnender Mann auf der Schwelle, der seine Hose hochzog, sich durch die Haare fuhr und über sein verschwitztes Gesicht wischte. »Verdammt heiß hier!« entfuhr es ihm.
Vicenca nickte nur.
Das gefiel Pepe nicht. »Was ist?« fragte er. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, es ist heiß.«
»Meinte ich doch.« Er gähnte wieder. Die beiden Pflanzenreste hatte er nicht gesehen. Ihn interessierte weder der Fußboden noch die Wand. Außerdem hatte er genug mit sich selbst zu tun und kratzte mit den Fingern über seinen Rücken. »Der Reporter hat sich zwischenzeitlich nicht gemeldet – oder?«
»Leider nein.«
»Er ist ein Hundesohn!« schimpfte Pepe.
»Warum?«
»Frag nicht so blöde. Er hatte es mir versprochen. Wir wollten die Probleme gemeinsam angehen. Ich bin davon überzeugt, daß noch mehr von diesen komischen Wesen hier in der Nähe herumlaufen. Wir wollten ihnen auf die Schliche kommen.«
»Laß es lieber.«
»Warum denn?«
»Ist es deine Sache, Pepe? Sollen wir Menschen nicht akzeptieren, daß wir nicht alles machen können und uns gewisse Grenzen gesetzt sind?«
Pepe staunte seine Frau an. »He, wie redest du denn? Das kenne ich nicht von dir?«
»Ich habe eben nachgedacht.«
»Wann?«
»Ich hatte Zeit genug.«
»Richtig.« Er schlug mit der flachen Hand auf die Stuhllehne. »Ich gebe dir recht. Wir müssen unsere Grenzen aufgezeigt bekommen. Wenn ich nur an diese verdammten Müllberge und den Mülltourismus denke, wird mir übel. Das aber ist noch kein Grund, sich keine Sorgen
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