0919 - Die Rache
weiteten sich, als er das Fremde entdeckte.
Auch das Haus war bereits in Mitleidenschaft gezogen worden.
An verschiedenen Stellen hatte es die Natur geschafft, das Mauerwerk aufzubrechen. Die Pflanzen mußten sich heimlich von unten her hineingeschlichen haben, und mit ihrer immensen Kraft hatten sie jedes Hindernis spielend überwunden.
Das war unwahrscheinlich und unglaublich. Weiter oben waren sie schon weiter hervorgedrungen, fast wie lange, grünbraune Arme oder wie Tentakel, die noch bewegungslos waren.
Jemand öffnete ein Fenster.
Es mußte der sechste Stock sein, so genau konnte Pepe es nicht abschätzen, weil ihm die blonde Frau unbekannt war, die sich aus dem Fenster lehnte.
Da oben hausten die beiden Hundesöhne, die Zuhälter. Das war Pepe schon bekannt. Und man hatte ihm auch von den Schreien berichtet, die oft genug aus der Wohnung gedrungen waren. Schreie von Frauen, die für ihre neue Arbeit präpariert wurden. Schlimmer konnte der Zynismus nicht sein. Das alles war für Pepe vergessen, als er sah, was die Frau vorhatte, daß sie auch dabei war, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Sie kletterte.
Das hockte sie auf der Bank.
Pepe wollte schreien und ihr zurufen, daß sie es nicht tun sollte, er schaffte es nicht mehr.
Die Blonde war schneller.
Sie kippte in die Tiefe!
***
Ich falle! Ich schwebe! Ich entkomme den Sorgen! Es ist auf einmal so wunderbar. Alles liegt weit zurück. Ich brauche nicht mehr das zu tun, was die anderen wollen. Die Welt ist wieder bunt, und ich kann fröhlich sein.
Innerhalb kürzester Zeit jagten zahlreiche Gedanken und Vorstellungen durch Ludmillas Kopf. Zwar hatte sie den Namen ihrer Mutter gerufen, aber auch der Schrei war für sie nur ein Gedanke gewesen, und der verwischte sich mit den anderen.
Ludmilla hielt die Augen weit geöffnet. Sie wollte sie auch nicht schließen. Die letzten Sekunden der Freude wollte sie genau erleben.
Keine Trübung des Blickwinkels, und selbst den Aufprall wollte sie noch mitbekommen.
Sie bekam ihn mit!
Vorbei, alles ist vorbei. Der Aufschlag auf dem Boden. Ein plötzlicher, brutaler Tod, so, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet.
Es passierte nicht.
Keine Dunkelheit. Statt dessen blieben ihre Gefühle, ihre Wahrnehmungen, aber Ludmilla hatte den Eindruck, als wäre ihr Wahrnehmungsvermögen verändert worden. Nicht mehr so schnell, langsamer jetzt, und jedes Bild blieb kurz stehen, bevor sie ein nächstes sah.
Sie schaute nach unten.
Sie sah den Boden noch immer tief unter sich. Sie sah auch einen Mann dort stehen und in die Höhe starren. Andere Menschen entdeckte sie ebenfalls. Die aber gingen weiterhin ihrer normalen Tätigkeit nach und warfen keinen Blick an der Hausfassade hoch.
Ich schwebe in der Luft!
Diese Tatsache schoß ihr durch den Kopf. Ich schwebe tatsächlich in der Luft. Es hat mich gepackt. Ich kann fliegen, ich kann mich halten. Ich soll nicht sterben. Man will mich nicht haben. Die Luft ist plötzlich hart geworden und weich zugleich. Sie hat mich auffangen können, und es ist wunderbar.
Warum falle ich nicht? Warum bleibe ich stehen? Warum bin ich nicht steif geworden?
Gerade die letzte Frage beschäftigte sie, denn sie merkte, daß alles anders geworden war, sie zwar bäuchlings in der Luft hing, aber nach unten schaute und sich dabei bewegte.
Federnd, nicht starr. Auf und ab, immer sehr leicht, als läge sie auf einem Pendel, das seine Kraft auch auf ihren Körper übertragen hatte. Es war so unerklärlich und…
Sie beruhigte sich. Es war alles okay. Sie hing vor der Wand. Sie konnte nicht fallen.
Warum nicht?
Ludmilla verdrehte die Augen und versuchte dabei, zur Seite zu schielen. Etwas mußte passiert sein, etwas Unbegreifliches. Wahrend sie die Augen verdreht hielt, sah sie etwas Grünes, das ihrer Körper umschlang und auch an ihren Armen vorbeigekrochen war, um sie zu umfangen.
Grün wie die Pflanze, wie ein Stück Natur, ein Gewächs mit langen Armen.
Lianen. Starke Arme, die federnd nachgaben, aber eine Gegenkraft einsetzen konnten, um etwas aufzufangen. So wie es bei ihr geschehen war. Lianen mitten in der Luft?
Beinahe hätte sie gelacht, das aber konnte sie sich sparen, denn es stimmte.
Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Der Kopf war gefüllt mit Gedanken. Sie schaute sich um und versuchte herauszufinden, was da passiert war. Ludmilla war mutiger geworden, denn sie vertraute den Kräften, die sie abgefangen hatten.
Genau da sah sie, was geschehen war. Beinahe hätte sie
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