0919 - Die Rache
sein eigentliches Zuhause werden, aber diese ungewöhnliche Fremdheit überraschte ihn schon.
Es war ihm nicht geheuer.
»Vincenca…?« Er rief den Namen seiner Frau mit halblauter Stimme. Wenn sie in der Wohnung war, so hätte sie ihn jetzt hören müssen. Auch im Nachbarzimmer, das hinter einem Vorhang begann.
Dahinter schloß sich die winzige Toilette an. Das Waschbecken befand sich im Schlafraum hinter dem Vorhang, den Pepe im Dunkel nur mehr ahnen konnte.
Vincenca hatte ihm keine Antwort gegeben, und seine Unruhe steigerte sich noch. Gerade an einem Tag wie heute gefiel es ihm nicht, allein zu sein. Er hatte mit seiner Frau über gewisse Dinge reden wollen, und sie hatte ihm auch nicht gesagt, daß sie noch wegwollte.
Er machte Licht.
Die Deckenleuchte warf nur einen trüben Schein in den Raum, der allerdings einige Käfer erschreckte, die schnell in irgendwelchen Spalten oder Ritzen verschwanden. Andere Bewegungen sah Pepe nicht.
Schrank, Tisch, Stühle, die kleine Anrichte mit dem Hausaltar, auf dem besonders die Madonna auffiel, alles sah so aus wie immer.
Nichts hatte sich verändert. Trotzdem spürte Pepe, daß etwas anders geworden war in dieser verdammten Behausung, und er merkte, wie sich die zweite Haut auf seinem Rücken verdichtete und allmählich kälter wurde. Für ihn war es keine angenehme Kühle, es war eine Reaktion auf seine eigene Angst. An der Stirn sammelte sich der Schweiß zu Tropfen, die ihm bald über das Gesicht rollten.
Vicenca war also nicht da.
Hatte sie die Wohnung freiwillig verlassen?
Eine Antwort konnte nur sie selbst geben, dazu mußte er sie aber erst finden.
Sein Blick richtete sich auf den Vorhang. Er war nicht mehr als ein alter Lappen und sah ebenso grau aus wie die Decke. Sonst stand der Vorhang spaltbreit offen, an diesem Abend jedoch war er geschlossen. Vicenca war also im Bett. Warum aber hatte sie die Glotze nicht ausgeschaltet?
Zu viele Ungereimtheiten beschäftigten den Mann und machten ihn beileibe nicht glücklicher. Um Klarheit zu haben, mußte er den Vorhang öffnen und den Schlafraum betreten, auch wenn es ihm nicht eben leichtfiel.
Da hörte er das Sirren!
***
Pepe Marcas riß den Mund auf, aber er schrie nicht. Der Schrei war auf halbem Wege steckengeblieben, und ihn hatte tatsächlich das Entsetzen stumm gemacht.
Hoch und schrill erreichte es seine Ohren, als hätte jemand eine straff gespannte Stahlsaite zum Schwingen gebracht. Die Angst in ihm erfuhr eine Steigerung. Pepe mußte etwas tun, aber er wußte nicht, was er unternehmen sollte. Er dachte an seine Frau, aber er beschäftigte sich auch mit diesem schrecklichen Laut, der für ihn keine Drohung, sondern so etwas wie eine Bestätigung war.
Furcht durchfloß ihn immer stärker, und sein Vorhaben, den Vorhang zu öffnen, stellte er zurück. Statt dessen schlich er zitternd und auf Zehenspitzen dorthin, wo der Sessel mit der hohen Lehne stand, die ihm Schutz bieten konnte.
Wenig später war er heilfroh, daß er hinter ihm hatte Schutz finden können, aber er wußte auch, daß es nicht der perfekte Schutz war. Wenn das Wesen ihn töten wollte, dann würde es sein Vorhaben auch durchziehen.
Um seine Frau hatte er ebenfalls Angst. Der Beweis war zwar nicht erbracht worden, aber Pepe wußte trotzdem, daß sie sich noch in der Wohnung aufhielt.
Hinter dem Vorhang mußte sie stecken, wo sich auch das Wesen befand. Nach einigen Sekunden wurde Pepe mutiger. Aus seiner Deckung heraus linste er auf den Vorhang.
Noch bewegte er sich nicht, aber auch das Sirren hatte aufgehört.
Es klang jetzt leiser, beinahe wie eine zufriedene Melodie. Ihn schauderte, wenn er über diesen Vergleich nachdachte. Wann konnte denn eine derartige Bestie zufrieden sein?
Doch nur, wenn sie ein bestimmtes Ziel erreicht hatte. Bei diesem Gedanken brach ihm der Schweiß stärker aus, und die Tropfen rannen in kalten Eisbahnen über seinen Rücken.
Plötzlich bewegte sich der dünne Stoff. Und zwar dort, wo sich auch der Spalt befand, in der Mitte nämlich. Er sah eine bleiche Hand, die sich durch die Lücke geschoben hatte, wobei sich die Finger für einen Moment krümmten, zufaßten und den Stoff schließlich mit einem heftigen Ruck zur Seite rissen. Der Vorhang war offen, die Sicht frei, und Pepe Marcas sah das zweite Monster!
***
Diesmal war es keine Frau, sondern ein Mann, dessen dunkle Haare glatt nach hinten gekämmt waren. Er sah so aus wie die Schrumpfköpfe, die in manchen Museen zu besichtigen waren.
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