0920 - Welt der Stille
Gensfleisch gab sie mir, für Josi.«
Zwei Ringe lagen dort und reflektierten das gleißende Licht der Energieblitze. Ein roter und ein blauer.
Der Meister des Übersinnlichen lächelte.
***
»Monsieur Zamorra! So trifft man sich also wieder.«
Der Finstere trat aus dem Chaos der umherschwirrenden Blitze und verschwindenden Wirklichkeit, langsam und selbstsicher wie ein Künstler, der wusste, dass sein Werk vollbracht war und ihm nichts mehr blieb, als das Lob für die erbrachte Leistung einzufahren. Um ihn herum wütete die Vernichtung, machte die Zeit den Dom, die Stadt und die Gegenwart obsolet - und Dandrono blieb ungerührt, schritt dicht an der Zerstörung entlang und wurde von ihr doch nicht einmal angetastet. Es war, als würden die Zeitbeben ihm aus dem Weg gehen, denn der Mann aus Substanz gewordener Schwärze verlangsamte nicht einmal seinen Schritt.
»Und Mademoiselle Duval, wie angenehm.« Er sprach gemäßigt, kaum lauter als im Plauderton, dennoch verstand man jedes Wort. Trotz der zischenden Blitze. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Ihnen noch einmal zu begegnen, aber wie sagte einer Ihrer Schriftsteller so treffend? Es gibt nichts Gutes, solange man es nicht selbst erledigt. Oder so ähnlich.«
Zamorra registrierte, wie sich Nicole und Heinrich an seinen Seiten versteiften. Für einen kurzen Moment musste er daran denken, wie oft Heinrichs Altersgenossen aus seiner eigenen Gegenwart eine derartige Szene schon gesehen hatten: Der Bösewicht, der kurz vor dem Finale noch einmal auftritt, cool und lässig an all den Explosionen vorbei schreitet und dabei bedeutungsschwangere Phrasen von sich gibt - das gab es in jedem dritten Actionfilm, der aus Hollywood kam. Nur war Hollywood fern und das hier keine Illusion. Dies war das Mainz des Jahres 1455, und Heinrich Delorme würde zu seinen Lebzeiten nie so etwas Futuristisches wie ein Kino betreten.
Und wenn Zamorra nicht bald handelte, würde es auch in der Zukunft keine mehr geben. Weil die Zukunft selbst gerade verschwand, vor seinen Augen.
Er spürte, wie Nicole seine rechte Hand berührte, in der er die Zeitringe hielt, und verstand. Sie wollte, dass er die Ringe benutzte, um sie drei aus dieser Situation zu befreien - und vermutlich hatte sie auch recht. Aber etwas in ihm ließ ihn zögern, die Reise anzutreten und entweder den bereits begonnenen Zeitkreis zu schließen oder gar einen neuen, zweiten aufzumachen. Etwas, das weniger von Vernunft als von Instinkt gespeist wurde. Und der Meister des Übersinnlichen hatte gelernt, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen.
Mit einem schnellen Seitenblick sah er zu Heinrich, sah die Angst und die Ratlosigkeit in den Augen des jungen Mannes. Er sah die verschwindende Stadt Menz, die sich allmählich in den Ort verwandelte, der in einer anderen Zukunft einmal Aldebars Heimat gewesen war. Und er wusste, dass er hier noch etwas zu erledigen, noch ein Versprechen einzuhalten hatte. Die Zeit, so absurd diese Formulierung im Angesicht des Chaos auch klingen mochte, war reif dafür.
»He, Arschloch!«, rief Zamorra und lächelte Dandrono entgegen. »Hast du mich vermisst? Was ist nun, willst du mich fertig machen oder nicht? In Trier hast du's schon nicht gekonnt - und jetzt hast du Ladehemmung, oder was?«
Die Augen des Finsteren glühten wie das Feuer der Hölle, und Zamorra war, als könne er die Wut des fremdartigen Wesens förmlich spüren. Die Wut… und die Arroganz. Dandrono wollte ihn, wollte ihn leiden sehen und ihn vernichten. Wollte gewinnen.
Und die deutlichen, bewusst provozierenden Worte des Professors verfehlten ihre Wirkung nicht. Mit einer absurden Genugtuung und grimmiger Freude registrierte Zamorra, wie sich sein Leib plötzlich und binnen eines einzigen Augenblicks in einer Wolke aus grauweißem Nebel auflöste.
***
Er wusste, wo er enden würde, war sich dessen so sicher, wie er sich einer Sache nur sein konnte. Und als die Schwaden wieder Form wurden und sein Körper wieder Substanz und Festigkeit gewann, fand sich Professor Zamorra in der Sphäre wieder, die er vor einigen ereignisreichen Wochen bereits einmal besucht hatte. In Dandronos Zwischenwelt, dem Reich aus Nebel.
Damals, in Trier, hatte er den Kaiser Terticus I. hierher begleitet. Und nun hoffte er, dass sein erneuter Ausflug ihm bei seinem wieder entflammten Kampf gegen den Finsteren ebenfalls einen Vorteil verschaffen würde. Oder ihm zumindest dabei half, sein Versprechen gegenüber Heinrich einzulösen und Josephine
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