0923 - Ice Road Shockers
finden hoffte. Das, was sie war… ja, das war sie doch schon.
Die Maschine der Canadian Airways drehte langsam, ging in den Landeanflug über, und mit einem Mal musste Zamorra an Pierre Robin denken. Erst gestern hatte er mit seinem alten Freund von der Lyoner Polizei telefoniert und ihm von Nicoles Auszug erzählt. Natürlich hatte er weder Trost noch Rat gesucht, war von Pierres hörbarer Verlegenheit dann aber doch überrascht gewesen. Auf Zamorras Nachfrage erklärte er, er befinde sich in einer »Loyalitätszwickmühle«.
»Eigentlich will ich mit dir gar nicht über dieses Thema sprechen«, hatte er gemurmelt, und Zamorra hatte ihn dabei förmlich in seinem Sessel auf dem Revier hin und her rutschen sehen. »Ich… Ich will nicht Partei ergreifen. Ich mag euch beide , das weißt du. Auch Nicole.«
Ja, das wusste er. Wer tat das nicht? Aber wer, fragte sich der Professor nicht zum ersten Mal seit ihrem abrupten Auszug, verstand sie noch?
Gut, sie hatten sich böse gestritten. Mehrfach. Überhaupt war die Stimmung zwischen ihnen schon seit längerer Zeit nicht immer allzu rosig gewesen. Die Sache mit dem Amulett, Merlins Erbe… und trotzdem…
Deshalb musste man doch nicht einfach davonrennen! Und wer wusste schon, wie lange ihre Auszeit dauerte? Vielleicht kehrte Nicole ja nie ins Château zurück.
Soll sie doch. Ich komme auch so klar.
»Und Sie halten das wirklich für eine reife Handlungsweise, Monsieur?« Williams Stimme, laut und deutlich in seiner Erinnerung. In dem Moment, als Zamorra mit gepackter Reisetasche in der Garage gestanden hatte und zum Flughafen aufbrechen wollte, wäre er dem treuen Butler und Majordomus von Château Montagne am liebsten an die Gurgel gegangen. Klar war es unreif, idiotisch, albern - aber es erfüllte seinen Zweck. Es lenkte ab. Ein Linienflug nach Kanada, gefolgt von einer Busfahrt nach Yellowknife… Und dann sehen wir mal weiter.
Der Gedanke an das, was vor ihm lag, erfüllte Zamorra mit freudiger Erwartung. Das Fernsehprogramm hatte ihn dazu inspiriert, so absurd das auch war: Vor einigen Tagen hatte der Meister des Übersinnlichen einen Bericht über einen Mann gesehen, der hier oben an einer eigenartigen Trucker-Aktion teilgenommen hatte. Dann war er vermisst worden, und als er wieder auftauchte… Nun, die Schilderungen all der übernatürlichen Grausamkeiten, die er erlebt haben wollte, waren farbenfroh und plastisch gewesen. Ein gefundenes Fressen für die Presse. Und sie hatten Zamorras Fantasie beflügelt.
Die William-Erinnerung meldete sich wieder: »Dieser Kraftwagenfahrer ist, wenn Sie mir die saloppe Formulierung gestatten, nur scharf auf Aufmerksamkeit. Und vermutlich ein wenig mental lädiert, als Folge seiner wochenlangen Odyssee durchs Eis zurück in die Zivilisation.« Und sein Blick - halb mitleidig, halb entsetzt.
»Da haben Sie höchstwahrscheinlich recht«, hatte Zamorra erwidert. »Aber wissen Sie, was? Darauf lasse ich's ankommen!«
Die Linienmaschine ruckelte, als sie sich dem Erdboden näherte. Landegeräusche, vertraut und doch stets aufs Neue spannend, drangen an sein Ohr. Der Professor lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss die Augen.
»Fliegen Sie oft Linie?« Eine männliche Stimme erklang neben ihm, ängstlich und ein wenig peinlich berührt. Zamorra hob die Lider, wandte sich um und sah in das fragende Gesicht eines Geschäftsmannes, der auf der anderen Seite des schmalen Ganges saß, quasi sein Sitznachbar. »Ich meine nur. Sie sehen so entspannt aus.«
Flugangst? , dachte Zamorra amüsiert. »Eigentlich nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Und wenn, dann selten so wie heute, in der Economy Class. Ich…«
Ja, was eigentlich? Plötzlich musste er lachen.
»Ich hatte einfach mal Lust auf etwas anderes, verstehen Sie? Einen Tapetenwechsel. Raus aus den alten Mustern.«
Der Mann nickte freundlich, doch der Franzose sah, dass er kaum zugehört hatte. Er war nervös und wollte nur Small Talk betreiben, um sich von der Landung abzulenken. »Und was führt Sie nach Kanada?«, legte er gleich mit der nächsten Standardfrage los.
Gute Frage. Soll ich mit der Wahrheit kontern? Eine Räuberpistole wie aus einem Stephen-King-Roman. Mit indianischen Geistern im kanadischen Hochland und mit nächtlichen Erscheinungen voller Grauen und Gefahren. Sagt zumindest die Klatschpresse. Aber die glaubt ja auch an Nessi…
»Der Beruf«, antwortete er schlicht.
Die Reifen der Boeing hatten die Landebahn längst berührt, da
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