0924 - Das Totenbuch
Körper.
Die Umrisse präsentierten sich ihr als Schatten, der trotz allem zugreifen konnte.
Damit kam Carol nicht mehr zurecht. Ihr eigenes Denken war ausgeschaltet, und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Sie war schlichtweg ausgeschaltet und kam sich schon vor wie eine Tote.
Sie folgte ihm.
Es glich einem kleinen Wunder. Er ging einfach nur dahin und bot ihr den ausgestreckten Arm an.
Beide wirkten wie ein Paar, allerdings sehr unterschiedlich. Sie würde auch nie auf den Gedanken kommen, dem neuen Begleiter zu entfliehen, und sie sah sich über die Brücke gehen, ohne einen Blick über das Geländer nach unten zu werfen, wo noch immer die Fahrzeuge über den Motorway rauschten. Die hohen Gischtfontänen hörten nie auf.
Erst als die beiden die Brücke verlassen hatten, traute sich Carol, einen forschenden Blick auf den Mann an ihrer rechten Seite zu werfen.
Mann?
Nein, auch nicht Mensch.
Ein Schatten. Eine dunkle Projektion, das war alles, was sich neben ihr bewegte.
Sie dachte daran, daß er von einem Toten- oder Geisterreich gesprochen hatte. Er würde es ihr zeigen, er war einfach in der Lage, dies zu können, und sie fragte sich nicht mehr, ob er selbst aus diesem Reich stammte, denn sie glaubte inzwischen daran.
»Du wirst dich töten, Carol, aber du wirst dich darauf vorbereiten. Und ich stehe dir dabei zur Seite, denn ich besitze das Totenbuch, in das du hineinschauen kannst. Dort wirst du vieles lesen, und du wirst überrascht sein. Wenn du mich und den Inhalt des Totenbuchs verstanden hast, kann es für dich nur eines geben: die Freude auf den Tod…«
***
»Ja, die Freude auf den Tod«, murmelte Carol und räusperte sich. Sie kehrte zurück aus dem Käfig ihrer Erinnerungen, und sie nahm die Umgebung auch wieder so auf, wie sie tatsächlich war. Keine Bilder mehr aus der Vergangenheit. Sie sah wieder die Decke über sich, die grauen Wände der Laube, all das gehörte seit einiger Zeit zu ihrem Leben. Und auch er, der Begleiter, der Schatten, obwohl sie nicht mal seinen Namen wußte. Er sollte ihn auch nicht nennen. Auf alle ihre Fragen hatte er nur erklärt, daß er von ihr als Begleiter angesprochen werden wollte. Nicht mehr und nicht weniger.
Sie lag auf dem Bett. Die Hände hatte sie hinter ihrem Kopf zusammengelegt. Es war stickig in dieser Laube. Die heißen Temperaturen draußen waren auch durch die dünnen Wände gedrungen, und ihr Körper schimmerte wie mit einer Ölschicht eingerieben.
Carol war nur locker bekleidet, mit einem kurzen, gepunkteten Kleid und Turnschuhen. Es hing in dem schmalen Wandschrank auch noch ein alter Mantel, ein Kittel und eine Strickjacke.
Carol wußte nicht, wem die Laube gehörte. Es war auch niemand zu sehen; niemand störte sie. Hin und wieder nur war der Begleiter erschienen, um sich mit ihr zu unterhalten, aber das Wichtigste, das Totenbuch, hatte er nicht mitgebracht.
Nach seinem dritten Besuch hatte sich Carol endlich getraut, danach zu fragen. Sie hatte jedoch nur eine ausweichende Antwort erhalten. Das Totenbuch wäre im Moment nicht greifbar, so war es ihr gesagt worden, und sie hatte sich damit abfinden müssen.
Warten, nur warten sollte sie.
Carol lag zumeist auf dem Bett. Immer wieder dachte sie über ihr Leben nach, und es gab auch Phasen, wo sie überlegte, ob der Freitod wirklich die beste aller Möglichkeiten war. So sehr sie auch überlegte, sie kam immer wieder zu dem Entschluß, daß es keinen Sinn hatte, das Leben weiterführen zu wollen. Sie war dabei in einen Sog hineingeraten, aus dem sie nie mehr hervorkommen würde. Nicht aus eigener Kraft. Weder kämpfend noch strampelnd, noch bittend. Es blieb dabei, sie würde sich selbst töten. Und sie war gespannt darauf, wie der Begleiter sie führen wollte.
Carol stand auf. Es fiel ihr schwer. Sie fühlte sich ausgelaugt und kaputt. Das Kleid klebte an ihrem Körper, und sie überlegte, ob sie sich waschen sollte.
Im Nebenraum gab es eine Toilette und ein Waschbecken, aus dem kaltes Wasser strömte, aber es erfrischte sie nur ungenügend, denn durch die Hitze kehrte der Schweiß noch schneller zurück.
Sie tappte zum Fenster. Der Fußboden war mit einem schmutzigen, dünnen Teppich belegt, der an einigen Stellen Löcher zeigte. Die Tür sah stabil aus, die beiden Fenster waren es ebenfalls, aber Carol wußte nicht, wem die Laube gehörte.
War der Begleiter der Besitzer?
Daran konnte sie nicht glauben. Sie rechnete eher damit, daß der Eigentümer nicht mehr lebte und deshalb
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