0924 - Das Totenbuch
geklimmt hielt. »Irgendwann schafft es dieser Begleiter nicht mehr, uns zu entwischen…«
***
Carol Holmes lag auf dem Rücken, schaute zur Dicke und stillte fest, daß deren Umrisse allmählich verschwammen und andere Formen annahmen.
Bilder kristallisierten sich hervor. Szenen - bunt, dennoch voller Tristesse. Dir Regen, der durch die Lichter der Lampen fiel, glitzerte. Ein Bild, das Carol kannte, denn sie projizierte ihre eigenen Erinnerungen an die Decke dis kleinen Hauses, und allmählich vergaß sie die Wirklichkeit.
Wie war es noch gewesen, an diesem Regentag, dir gar nicht mal so lange zurück lag? Das Unwetter hatte London in eine Wasserwüste verwandelt. Eiergroße Hagelkörner hatten viele Finster und auch Dachpfannen zerschlagen. Sie hatten Menschen verletzt und Autos beschädigt, und nach dem großen Unwetter tröpfelte es.
Freiwillig hielt sich niemand dort auf. Carol Holmes gehörte zu den wenigen Menschen, und ihr war egal, ob sie der Regen durchnäßte oder sie trocken blieb.
Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen.
Es war aus und vorbei.
Dieser Ärger im Beruf, die Depressionen. Der Partner, der sie verlassen hatte, weil ihm eine andere Frau besser gefiel. Es war einfach zu viel auf einmal zusammengekommen, das verkrafteten die Menschen nicht, und Carol, die dicht davor stand, ihren Job zu verlieren - am nächsten Tag sollte die Entscheidung fallen - wollte diese Stunde der persönlichen Schmach nicht erleben.
Ihr Dasein hatte keinen Sinn mehr. Es war leer, es war ausgelaugt. Knapp fünfunddreißig Jahre hatte sich Carol mehr oder weniger gut durchs Leben geschleppt, das sollte nun ein Ende haben, und wenn sie ehrlich war, dann freute sie sich auf den Tod.
Sie erreichte die Brücke. Sie ging mit gesenktem Kopf. Dir dünne Sommermantel war einmal hell gewesen, jetzt sah er durch den Regen dunkel aus. Er umgab ihren Körper wie ein klatschnasses Tuch.
Sie schritt über die Brücke. An der rechten Seite befand sich das Geländer. Es war keine Themsebrücke, nein, sondern ein sehr schlichtes Bauwerk, das eine Autobahn überquerte. Sie war normal hoch, aber diese Höhe würde Carol ausreichen.
Die Lampen standen am Beginn der Brücke. Zwei brannten auf jeder Seite. Die Farben der Regentropfen waren für sie nicht mehr zu erkennen. Carol Holmes stand allein in dir Dunkelheit, den Blick starr nach vorn gerichtet, weil sie noch einmal zurückschauen wollte. Nach Osten hin, wo die Riesenstadt London lag, zu der sie auch einmal gehört hatte. Aber das war längst vorbei. London würde bald einen Bewohner weniger haben. Es hatte sie nicht angenommen. Die Masse der Häuser war für sie ein mächtiger Feind gewesen, und auch die durch die Regenglocke schimmernde Lichterwelt konnte sie von ihrem Entschluß nicht abhalten.
Weg aus diesem Leben.
Keine Sorgen, keinen Druck mehr erleben, auch keine Ängste.
Unter ihr fuhren die Autos entlang. Auf dir dunklen, nassen Fahrbahn sahen sie aus, als würden sie durch eine Wasserrutsche gleiten, rechts und links von Fontänen begleitet.
Noch immer sausten die Fahrzeuge unter ihr dahin, als wollten alle Fahrer in den Tod rasen. Kaum jemand nahm auf das Aquaplaning Rücksicht.
Der Sprung von dir Brücke war am einfachsten. Sie hatte auch andere Möglichkeiten in Betracht gezogen. Das Aufschneiden dir Pulsadern, das sich Erhängen, der Gang in die Themse, doch gerade vor dem letzten war sie zurückgeschreckt, denn das Ertrinken wäre einfach zu qualvoll für sie gewesen.
So blieb ihr nur der Sprung.
Noch einmal atmete sie durch. Die Luft war kühler geworden, aber auch feuchter, und Carol Holmes hatte den Eindruck, sie trinken zu können. Das Geländer vor ihr war so breit wie ein normaler Herrenschuh und durch den Regen glatt gemacht worden, als läge eine dünne Eisschicht auf dem Metall.
Sie strich mit beiden Händen darüber hinweg, als wäre sie dabei, einen Körper zu streicheln.
Das aber lag lange zurück, sehr lange.
Damals, ihr Freund…
Scheiße! dachte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Verdammte Scheiße! Ich habe mich reinlegen lassen! Er hat es geschafft und ist mit dem Geld auf und davon. Nichts, aber auch gar nichts blieb mehr zurück. Er hat mich allein gelassen, er hat…
»Du Schwein!« brüllte sie über das Geländer hinweg, und der rauschende Regen schluckte ihren Schrei wie ein gewaltiges Loch. »Du Schwein bist an allem schuld. Du - du - du…«
Ihre Stimme versagte. Sie senkte den Kopf und schüttelte ihn wild, so
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