0924 - Das Totenbuch
zuging. Sie sagten allerdings nichts und tranken weiter. Auch zwei Frauen befanden sich unter ihnen.
Ich betrat durch die offene Tür den Innenraum. Er strahlte die Gemütlichkeit einer Bahnhofshalle aus, wo die Besitzer nur auf den reinen Durchgangsverkehr spezialisiert waren.
Der Wirt las Zeitung. Er stand hinter der Theke, und die dünnen Blätter flatterten im Durchzug. Er hatte mich gehört, schaute aber erst auf, als ich an den schmucklosen Tischen und Stühlen vorbeigegangen war und vor ihm stehenblieb.
»Guten Tag«, sagte ich.
Er ließ die Zeitung sinken, schaute mich an, und ich schaute ihn an. Er hatte eine Halbglatze und trug ein schwarzes Stirnband. Das Unterhemd war ebenfalls schwarz, die Hose eine blaue Jeans.
Sein Gesicht sah müde aus, die Lippen verzogen sich zu einem knappen Grinsen, und er sagte zur Begrüßung: »Scheiß Hitze!«
»Stimmt.«
Der Mann wischte Schweiß von seiner breiten Stirn und reckte das eckige Kinn vor. »Was wollen Sie trinken?«
»Eigentlich nichts.«
»Tatsächlich. Das freut einen Wirt immer.«
»Nehmen Sie es nicht persönlich. - Ich hätte aber gern eine Auskunft von Ihnen.«
»Hau ab!«
Ich blieb gelassen. »Vielleicht denken Sie noch einmal darüber nach«, sagte ich und zeigte ihm meinen Ausweis.
»Ach, ein Bulle?« staunte er.
»So ähnlich.«
»Kann man nichts machen. Wenn Sie die Typen da draußen meinen, die sind radikal in Ordnung…«
»Radikal ist gut, Meister. Aber die meine ich nicht. Mir geht es um einen Menschen, der in dieser Anlage hier einen Garten hat und ich würde gern wissen, wo ich ihn finden kann.«
Der Knabe vor mit hob die Schultern.
»Ein Wasser«, bestellte ich. »Groß oder klein?«
»Klein.«
Er holte die Flasche aus der Kühlung, auf ein Glas verzichtete ich, und während er den Verschluß öffnete, erkundigte sich der Wirt nach dem Namen des Gesuchten.
»Paul Sibelius.«
Der Mann hatte die Flasche herüberreichen wollen, jetzt aber, wo er den Namen erfahren hatte, hielt er sie mit einer Hand fest, als wollte er den Inhalt anwärmen.
»Ist was?«
»Was wollen Sie denn von dem?« Er schob mir die Flasche rüber. Ich nahm den ersten Schluck.
»Nur mit ihm reden.«
Der Wirt lachte. »Das ist gut. Aber Sie werden wieder umkehren müssen. Soviel ich weiß, hat sich Paul schon lange nicht mehr blicken lassen. Ich weiß nicht, was mit ihm ist.«
»Was war er denn für ein Typ?«
Während ich die Flasche wieder ansetzte, hörte ich die Antwort. »Keiner, der hierher paßte. Er war ein Einzelgänger. Er war verschlossen. Er hat kaum mit jemand gesprochen und sich nur in seine verdammte Hütte verkrochen.«
»Pflegte er denn seinen Garten?«
»Auch nicht. Haben die anderen zumindest erzählt.«
»Dann war er wohl ein beliebtes Gesprächsthema hier - oder?«
»Kann man sagen.« Der Wirt überlegte und drehte feuchte Härchen auf seinem linken Arm zusammen. »Wenn er schon mal redete, dann erzählte er immer von gewissen Welten und gefährlichen Zonen, in die Menschen hineingeraten können. Er muß sich wohl mit dem Tod und dem Jenseits beschäftigt haben.«
»Welche Zonen denn?«
»Da habe ich keine Ahnung.«
»Und andere?«
»Wie meinen Sie das?«
»Gibt es Personen, die mehr über ihn wissen als Sie?«
»Klar, andere Leute hier. Aber die sind nicht da. Erst am Wochenende geht es hier los.«
»Da kann man wohl nichts machen.«
»Sie werden Paul auch nicht in seiner Bude finden, Mister. Darauf können Sie Gift nehmen.«
»Lieber nicht.« Ich lächelte. »Aber Sie können mir sicherlich sagen, wo ich die Hütte oder Laube finden kann?«
»Klar, aber das ist ziemlich weg. Am Ende der Anlage.«
»Als Polizist ist man Kummer gewohnt.«
Er machte mir eine Skizze, an der ich mich orientieren konnte. Ich beglich inzwischen die Rechnung, verabschiedete mich dann und ging an der Clique vorbei, die mit sich selbst beschäftigt war.
Die Gartenanlage war wie ein Schachbrett angelegt. Der Stadtplan von Manhattan im Kleinen. Es gab Längs- und Querwege, irgendwo trafen sie immer zusammen, und auf dem Gelände dazwischen lagen dann die Gärten.
Die wenigen Hobbygärtner, die sich auf ihrer Scholle aufhielten, dachten nicht daran, bei der Hitze irgendeiner Arbeit nachzugehen, das wäre auch lebensmüde gewesen. Sie hockten vor ihren kleinen Häusern und kühlten ihre Hälse mit Bier.
Manche Parzellen wurden von Hecken umfriedet, bei anderen reichten Maschendrahtzäune.
Über dem Gelände lag die Luft wie eine schwere
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