0924 - Der Herr der Nebelberge
auch nicht genau, was das bedeutet. Aber ich stell mir das so vor: Von hier bis zum Weißbeerteich brauchen wir ungefähr zehn Schritte.« Hendreg betrachtete seinen Bruder von oben bis unten. »Du vielleicht zwanzig.«
Stanef schlug Hendreg mit der kleinen Faust auf den Oberarm. »Du bist gemein!«
Hendreg fuhr unbeeindruckt fort: »Durch das kleine Land würden wir die Strecke in fünf Schritten schaffen.«
»Echt? So etwas geht?«
»Die Legenden erzählen es.«
Der Achtjährige schaute über das Nebelmeer zu einer fernen Berginsel. Seine Miene wirkte so konzentriert wie vorhin, als er den Drecktempel gebaut hatte. Vermutlich dachte er darüber nach, wie es wäre, mit den schnellen Stufen an solch ferne Orte zu reisen. »Was ist geschehen, dass alles so… so anders wurde?«
»Norc Rimrar kam nach Isilria.«
»Norgi-was?«
»Norc Rimrar. In der alten Sprache, die du auch bald lernen wirst, bedeutet das Zerstörer der Täler oder Talräuber. Er stieg mit seinem Vater aus den Tiefen der Unterwelt und strafte die Menschen für Vergehen, die nur ein dunkler Gott verstehen konnte. Als er unsere Welt zum ersten Mal heimsuchte, war er noch ein Kind, nicht älter als du oder noch jünger. Sein finsterer Vater lehrte ihn, grausame Strafen zu verhängen. Jahrelang tauchten sie immer wieder auf, quälten Menschen und Tiere, zündeten Häuser oder ganze Städte an, züchtigten oder töteten die Sündhaften. Nein, warte, das stimmt nicht. Die Legenden berichten, dass nur Norc Rimrar die Strafen vollstreckte. Der dunkle Gott stand bloß daneben und lachte.«
Obwohl es nicht kalt war, schlang Stanef die Arme um den Oberkörper, als friere er.
Sekundenlang überlegte Hendreg, ob er weiter erzählen sollte. Stanef nahm ihm die Entscheidung ab. »Und dann?«
»Die Menschen begriffen in ihrer Verblendung nicht, wofür Norc Rimrar sie strafte. In seinem Zorn öffnete er eine Pforte in die Tiefen der Unterwelt, in der die abscheulichsten Kreaturen hausten. Mit ihnen kam der Nebel nach Isilria und überzog das Land. Doch die Menschen begriffen immer noch nicht. Statt über ihre Sünden nachzudenken, flohen sie in die Berge, denn im Nebel fielen sie leicht den Schreckensgestalten darin zum Opfer. Erst, wenn die Menschen ihre Sünden erkennen, wird der Nebel weichen und Isilria wieder zu dem Paradies werden, das es einst war.«
Hendreg verstummte. Sein Mund war vom Erzählen trocken geworden. Er beugte sich zur Seite und zupfte von einem nahegelegenen Weißbeerstrauch eine der faustgroßen Früchte ab. Herzhaft biss er hinein, sodass ihm der erfrischend saure Saft aus den Mundwinkeln rann.
»Henny! Papa hat gesagt, wir dürfen keine Beeren pflücken! Die werden erst nach der Ernte verteilt.«
»Na, wenn schon! Dann dauert es wegen dieses kleinen Vergehens eben ein paar Tage länger, bis sich das Nebelmeer auflöst. Außerdem musst du es Papa ja nicht verraten.« Hendregs Stimme, die sich an den Fruchtfleischbrocken in seinem Mund vorbeizwängte, klang undeutlich und feucht.
»Dann will ich aber auch eine!«
Der Fünfzehnjährige pflückte eine weitere Beere und gab sie Stanef. »Hier, du Quälgeist.« Hendreg nahm noch einen Bissen, dann fuhr er fort. »Norc Rimrar hatte Isilria die Täler gestohlen, die Welt mit von Dämonen bevölkertem Nebel überzogen und trotzdem war der Mensch eitel und nicht bereit, über seine Sünden nachzudenken. Was kümmerte ihn der Nebel im Tal, wenn er über die schnellen Stufen von Berg zu Berg reisen konnte? Der Talräuber war außer sich vor Zorn und holte die Dämonen auch ins kleine Land . Er tötete alle Treppenmeister, weil er ihnen die Schuld an der Sündhaftigkeit der Menschen gab. Nur den Obersten der Zunft bewahrte er vor dem Tod und machte ihn zu seinem Sklaven.« Hendreg schleuderte den Weißbeerkern in den Tümpel. »Ich möchte wetten, der hätte den Tod vorgezogen. Norc Rimrars Zorn ging so weit, dass er sogar seinen Vater in den Nebel verbannte. Seit dieser Zeit lebt der Talräuber auf den schnellen Stufen , sodass er auf jede Berginsel gelangen kann. Hin und wieder holt er Menschen zu sich, wenn sie besonders schwer gesündigt haben. Niemals sieht sie jemand wieder.«
Mit entsetztem Blick starrte Stanef die Weißbeere in seiner kleinen Hand an. Seine Augen schimmerten feucht, als er zum Nebelmeer deutete. »Sind da immer noch Monster drin?«
Sekundenlang zögerte Hendreg, dann legte er seinem Bruder den Arm um die Schulter. »Unfug! Das ist nur eine Legende.«
»Hm. Warum
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