0924 - Der Herr der Nebelberge
nun noch bleicher. Sie hielt den Kopf schief, als lausche sie einem Lied, das nur sie hören konnte. Ihr Blick wanderte ruhelos durch den Raum. Dann sah sie Zamorra an und gleich darauf Rhett.
»Was? Ja, sicher.«
Sie gab Rhett mit der flachen Hand einen Klaps auf den Oberschenkel und stand auf.
»Entschuldigt ihr mich für einen Augenblick? Ich brauche frische Luft.«
Auch der Erbfolger stand auf und sah ihr nach. »Soll ich mitkommen?«
Kurz vor der Tür verharrte sie noch einmal. »Nein, nein. Bleib ruhig hier. Ist nur so eine… Frauengeschichte. Du verstehst?«
Im nächsten Augenblick verließ sie das Kaminzimmer und ließ einen sichtlich verlegenen Rhett zurück. »Frauengeschichte«, murmelte er. »Klar, kann ich voll verstehen.«
***
»Stanny?« Hendregs Stimme klang panisch und nicht wie die eines großen Bruders. »Hör auf mit dem Unsinn und komm runter!«
Wie die drei Male vorher erhielt er keine Antwort. Von wem auch? Die Treppe war leer! Stanef war verschwunden.
Oder versteckte er sich hinter dem Geländer? Hatte er sich in einem unbemerkten Moment geduckt und freute sich nun diebisch über den Streich, den er Hendreg spielte?
Unsinn! Der Fünfzehnjährige hatte ihn die ganze Zeit über im Blick gehabt. Da hatte es keinen unbemerkten Moment gegeben.
Er machte zwei unsichere Schritte auf die Treppe zu, dann blieb er stehen.
Sollte er wirklich selbst hinaufklettern und nachsehen? Er, dem schon schlecht wurde, wenn sein Vater ihn auf das Dach ihres Hauses schickte, um dort ein paar Ziegel zu ersetzen? Dabei bestand ihr Haus nur aus einem einzigen Stockwerk und war nicht ansatzweise so hoch wie diese beängstigende, freistehende Treppe.
Hendregs Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken.
Er umrundete das Stufengebilde. Dabei konnte er nahezu alles sehen, auch ohne selbst hochzusteigen. Und da war nichts! Absolut nichts!
Unmöglich! Stanny konnte nicht einfach verschwunden sein.
»Stanny! Sag doch bitte etwas.«
Schwindel erfasste den Jungen, als ihm ein irrsinniger Gedanke kam.
Plötzlich schlich die Legende, die er Stanef erzählt hatte, in seine Erinnerung. Die Treppenmeister, das kleine Land , die Portale. Konnte das eine dieser Pforten zu den schnellen Stufen sein? War Stanef dorthin geraten?
Nein! Das ist eine Legende, mehr nicht!
Und wenn es doch mehr war?
Dann musste er auch dorthin! Seinen Bruder zurückholen, seinen Stanny. Seinen Winzling.
Er machte zwei feste Schritte in Richtung des Treppenfußes, doch seine Selbstsicherheit fiel genauso schnell in sich zusammen, wie sie gekommen war.
Was erwartete ihn im kleinen Land , wenn es überhaupt existierte? Wäre es tatsächlich so einfach, Stanef zurückzuholen, warum kam er dann nicht von selbst zurück? Brachte sich Hendreg nicht selbst in Gefahr und vergab dadurch die Gelegenheit, Stanef wirklich zu helfen? Nein, was er tun musste, war nach Hause zu laufen und dort Hilfe zu holen!
Dann musste er allerdings auch erklären, warum sie das Verbotszeichen aus den gekreuzten Bissholzpfählen missachtet hatten. Hendreg wusste, dass wegen derartiger Gesetzesverstöße schlimme Strafen verhängt wurden. Erst letztes Jahr hatte ihr Nachbar das Zeichen vor dem Getreidesilo ignoriert. Vermutlich wollte er sich an dem Hohlkorn bedienen, obwohl ihm vom Rat nichts zugesprochen worden war. Er war erwischt worden, noch bevor er etwas stehlen konnte, und wurde alleine für das Übertreten der verbotenen Linie mit lebenslanger Leibeigenschaft bestraft. Wer weiß, was mit ihm geschehen wäre, hätte er bereits Hohlkorn in den Taschen gehabt!
Aus diesem Grund war es unnötig, die verbotenen Stellen ständig zu bewachen. Normalerweise hielten sich die Isilrianer auch so an die Gesetze. Zu groß war die Angst vor den Konsequenzen eines Verstoßes. Zu groß der Wunsch nach einem sündenfreien Leben.
Normalerweise!
Doch Stanefs Verhalten war alles andere als normal gewesen. So wie vorhin hatte Hendreg seinen Bruder noch nie erlebt. Der machte sich sonst schon ins Wollhöschen, wenn man ihn nur streng anschaute. Dieser Übermut passte gar nicht zu ihm.
Ob die Richter berücksichtigen würden, dass Hendreg nur versucht hatte, seinen durchgedrehten Bruder vor einem Gesetzesbruch zu bewahren? Ob sie es ihm überhaupt glauben würden? Oder müsste auch er den Rest seines Lebens im unbezahlten Dienst eines Großbauern verbringen?
Die Welt um den Jungen drehte sich und kam nicht mehr zur Ruhe. Was sollte er nur tun? Hätte er Stanef doch nur nie von
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