0925 - Blutzoll
Sir?«
»Ja, wenn Sie der Chef sind.«
»Der Besitzer.«
»Noch besser.«
»Um was geht es? Haben Sie Beschwerden, weil das Essen nicht Ihren Erwartungen entsprach?«
»Nein, deshalb bin ich nicht hier. Mein Name ist John Sinclair, ich bin von Scotland Yard.«
»Oh.« Er trat einen kleinen Schritt zurück. Dann verbeugte er sich. »Ich heiße Lao Fang, aber ich kann mich nicht daran erinnern, mich eines Vergehens schuldig gemacht zu haben.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Es geht auch nicht um Sie, sondern um zwei andere Personen. Freunde und Kollegen von mir. Eine Frau und ein Mann. Shao und Suko.« Ich beschrieb die beiden und wartete auf einen Kommentar.
Lao Fang ließ sich Zeit. Von mir wurde er dabei beobachtet, aber er zeigte mir nicht, ob er überrascht war, ob er nachdachte, über die Wahrheit sinnierte oder nur nach einer Ausrede suchte. Trotz seiner Freundlichkeit blieb er undurchsichtig.
»Die beiden waren hier«, sagte ich mit Nachdruck. »Sie müssen sich an sie erinnern.«
»Warum sollte ich? Schauen Sie sich diesen Betrieb an.«
»Es war noch früher Abend.«
»Es kann sein, daß ich sie gesehen habe«, gab er schließlich zu und nickte. »Ja, ich denke schon, daß sie hier waren. Sie haben eine Frühlingsrolle und eine Herbstrolle gegessen.«
»Und sind anschließend gegangen, nicht?«
»Natürlich.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht.«
Log er? Wahrscheinlich, aber das brachte mich nicht aus dem Konzept. »Gut, dann werde ich mich selbst umschauen.«
»Wo bitte?« Lao Fang machte einen verlegenen Eindruck. Er gab sich unsicher.
»Im Anbau.«
Diesmal hatte ich ihn überrascht. Auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck des Schreckens, der aber rasch wieder verschwand, um so etwas wie Überraschung anzunehmen, denn ich hatte ihn am rechten Ellbogen umfaßt und erklärte ihm, daß ich ihn mitnehmen wollte.
»Warum denn?«
»Sie kennen sich dort aus. Ich war zwar schon dort, ich habe den Toten auf dem Speicher gefunden, aber es ist besser, wenn wir zu zweit gehen.«
»Sie werden nichts finden.«
»Ich weiß«, erwiderte ich und schob ihn sanft auf den Ausgang zu. »Trotzdem schauen wir nach.«
»Sie können nicht…«
»Ich weiß selbst, was ich kann.« An dem überraschten Personal und den Gästen vorbei, komplimentierte ich ihn nach draußen. Er stolperte die Stufen der Treppe hinab, dann drückte ich ihn nach links, um auf die Einfahrt zuzugehen, die auf dem Hinterhof endete.
Er protestierte laufend, sprach sogar von Stasi-Methoden, aber seine Worte kümmerten mich nicht.
Vor dem Betreten des Anbaus hatte ich noch eine Frage. »Sind meine Freunde hinter diesen Mauern verschwunden?«
Er überlegte.
Ich gab ihm auch die Zeit und schaute mich um. Es war noch nicht dunkel, aber in der Enge des Hinterhofs breiteten sich schon die Schatten aus. Was den Mann dazu trieb, endlich die Wahrheit zu sagen, das wußte ich nicht. Jedenfalls senkte er seine Stimme zu einem Flüstern und hob warnend den rechten Zeigefinger. »Ja, sie waren hier. Sie sind auch in den Anbau gegangen, trotz meiner Warnungen!«
»Sie haben die beiden gewarnt?«
Seine Augen waren groß geworden, und er nickte mir zu. »Ja, ich habe sie gewarnt.«
»Warum und vor wem?«
»Dort ist etwas.« An mir vorbei warf er einen Blick auf den Anbau. »Dort sind Dinge passiert…«
»Welche Dinge?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Ich weiß es wirklich nicht. Man kann nur raten.«
»Reden Sie.«
»Geister«, flüsterte er. »Geister und Dämonen. Gräßliche Wesen. Ich denke es. Sie sind - sie sind…«
»Schon gut«, ergriff ich das Wort. »Kommen wir auf die Realitäten zurück. Sie haben meine Freunde in den Anbau gehen sehen.«
Er nickte heftig. »Hier an dieser Stelle habe ich gestanden und sie gewarnt. Hier genau. Ich - ich…«
Er räusperte sich und holte ein paarmal Luft. »Also hier habe ich gewartet, aber nicht lange. Ich bin wieder gegangen. Sie wollten keinen Rat annehmen.«
»Haben Sie meine Freunde denn zurückkommen sehen?«
Er starrte mich an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das habe ich nicht.«
War er ehrlich? Ich überlegte, ich wußte es nicht genau, aber ich traute ihm. Trotzdem warnte ich ihn. »Sollte ich feststellen, daß Sie mich belogen haben…«
»Nein, nein, nein…« Er hob beide Hände. »Ich habe Sie auf keinen Fall belogen. Es hat alles seine Richtigkeit. Die beiden sind dort verschwunden, glauben Sie mir.«
»Dann ist es gut.«
Er zupfte wieder an seiner Fliege
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