0925 - Blutzoll
prasselnden Regens. Ein Brausen untermalte das Trommeln der Regentropfen, das entstand, als eine Windbö nach der anderen neue Regenmassen heranpeitschte.
Die Tür war schnell erreicht. Shao glaubte sogar, einen kühleren Luftzug an ihren Füßen zu spüren.
Zumindest schloß die Tür nicht dicht mit dem Boden ab.
Diesmal war Shao nicht vorsichtig. Kaum hatte sie die Klinke gedrückt, wuchtete sie die Tür auf.
Der Schwung riß sie ihr aus der Hand. Als sie zurückschwang, stoppte Shao sie mit dem Fuß, und sie erhielt die Gelegenheit, einen Blick auf den Speicher zu werfen.
Daß sie altes Blut roch, bildete sie sich nur ein, aber hier oben war ein Mensch durch einen Stich in den Hals gestorben. Hier hatte auch das Totenbuch seinen Platz gefunden. Wahrscheinlich auf dem kleinen Tisch, hinter dem ein Stuhl stand.
Sie ging sehr langsam. Die Fenster waren schräg und auch ziemlich schmal. Der Regen fiel in langen, harten, nie abreißenden Schnüren aus den Wolken. Die Tropfen hämmerten auf die alten Pfannen.
Der Dachstuhl und die Dachpfannen machten auf Shao keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck. Alles wirkte alt, morsch und verwittert.
Es war auch ein böser Ort!
Shao, als sensible Person, spürte das mit all ihren Nerven. Da rann es als Kribbeln durch ihre Hände und erreichte auch die Fingerspitzen.
Die Stirn hatte sie in Falten gelegt. Sie bewegte den Kopf langsam, als sie sich umschaute.
Niemand wartete auf sie.
Keiner jagte aus dem Loch hervor, um sie anzugreifen. Es lag eine dichte Stille auf diesem Speicher, abgesehen vom Trommeln des Regens, doch diese Geräusche hörte Shao schon nicht mehr, weil sie einfach die Leere des Speichers in ihren Bann gezogen hatte.
Darüber wunderte sie sich.
Sie hätte auf dem Absatz kehrtmachen und wieder verschwinden können. Genau das tat sie nicht und konzentrierte sich auf die Leere, während sie einen Fuß vor den anderen setzte, um den Speicher zu durchsuchen, denn sie wollte auch in die dunklen Ecken schauen.
Daß das gesamte Dach nicht unbedingt dicht war, merkte sie sehr schnell. Irgendwo gab es eine Lücke, durch die der Wind fegte. Sein Stoß war so stark, daß er die offenstehende Tür erfaßte und sie wuchtig zuhämmerte.
Shao schrak zusammen, als sie den Laut hörte. Es war kein Schuß gewesen, der Durchzug hatte für diesen Knall gesorgt, und das erste rasche Schlagen ihres Herzens hörte auf.
Sie war wieder allein und fühlte sich wie eine Gefangene, deren letzter Ausweg ihr genommen war.
Sie drehte sich. Dabei breitete sie die Arme aus, als wollte sie jemanden umfangen, der gar nicht vorhanden war.
Dieser Speicher war leer.
War er das wirklich?
Shao hätte die Hand dafür nicht ins Feuer gelegt. Mit kleinen Schritten ging sie auf dem Tisch zu, hinter dem noch immer der verwaiste Stuhl stand. Dort hatte John den Tod des Mannes erlebt. Da hatte er das Totenbuch an sich genommen, von dem Shao bisher nur gehört hatte. Sie selbst kannte es nicht, aber sie konnte sich vorstellen, daß es eine sehr wichtige Rolle spielte.
Neben dem Tisch blieb sie stehen.
Er war nicht von einer Staubschicht bedeckt, sondern blank. Das Blut war nicht weggewischt worden. Es hatte sich wie Rost in den Boden gefressen.
Sie wartete.
Dabei wußte sie selbst nicht genau, auf wen oder was sie wartete, aber sie rechnete damit, daß etwas passieren würde. Irgend etwas mußte sich in Bewegung setzen. Die andere Seite schlief nicht. Sie war dabei, ihre Feinde zu beobachten, und Shao zählte dazu.
Der Regen trommelte noch immer gegen die Scheiben und auf das Dach. Shao schaute sich ein Fenster an, das schräg über ihrem Kopf lag. Die Tropfen wurden zu Schlieren und liefen an der Scheibe herab wie ein nie abreißender Tränenstrom.
Wo lauerte das Böse?
Wo befand sich Suko?
Wo war diese andere Dimension?
Und wo konnte sie das Tor finden, um die Grenzen zu überwinden?
Shao hatte keine Ahnung. Ihr Instinkt sagte ihr nur, daß sie sich an einer richtigen Stelle befand.
Sie ging weiter. Dabei wollte sie den Tisch passieren und an der Schmalseite wieder um ihn herumgehen. Es war alles ganz einfach, locker, wie immer.
Und doch anders.
Der zweite Schritt bereitete ihr schon Mühe. Plötzlich hatte sie den Eindruck, als hingen Gewichte an ihren Armen und Beinen. Für jede Bewegung benötigte sie viel mehr Kraft als sonst.
Shao bekam Angst.
Die andere Welt näherte sich ihr, und in ihr herrschten andere Gesetze, das merkte sie schon jetzt, wo alles erst am
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